Tz. 11
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Fahrlässigkeit ist die Außerachtlassung der erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt. Dabei ist auf die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen abzustellen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff). Der BFH geht in st. Rspr. davon aus, dass fahrlässig und damit schuldhaft i. S. des § 110 AO handelt, wer die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt nicht beachtet. Dabei reicht bereits leichte Fahrlässigkeit aus (statt aller BFH v. 29.08.2017, VIII R 33/15, BStBl II 2018, 69). Für das Maß der zumutbaren Sorgfalt sind die Vorbildung, die berufliche Tätigkeit, die allgemeine geistige Beweglichkeit, die praktische Erfahrung, die charakterlichen Eigenheiten und ähnliche konkrete Umstände in die Betrachtung einzubeziehen. So sind an einen steuerlich versierten Stpfl. höhere Anforderungen zu stellen als einen Unerfahrenen. Aber auch ein in steuerlichen Dingen Unerfahrener muss die z. B. Rechtsbehelfsbelehrung lesen; gerade ihn trifft auch die Verpflichtung, im Zweifel den Rat einer steuerlich erfahrenen Person einzuholen.
Tz. 12
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Wurde die Frist nicht von dem Betroffenen selbst, sondern von seinem Vertreter versäumt (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO), kommt es für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darauf an, ob dieser ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert war. Allerdings kann auch schon die Auswahl des Vertreters bzw. das Ausmaß der ihm erteilten Anweisungen den Vorwurf mangelnder Sorgfalt rechtfertigten. Für die Fristversäumnis durch Dritte sind daher folgende Unterscheidungen zu treffen:
- Bei gesetzlichen Vertretern ist ausschließlich auf deren Verhalten abzustellen; ein eigenes Verschulden des Vertretenen ist irrelevant.
- Versäumt ein gewillkürter Vertreter die Frist, ist zunächst zu prüfen, ob der Vollmachtgeber bei der Auswahl und Auftragserteilung die ihm zumutbare Sorgfalt walten ließ. Ist dies zu bejahen, ist zu prüfen, ob der Bevollmächtigte seinerseits schuldhaft säumig war. Sein Verschulden ist dem Vertretenen zuzurechnen (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO) und zwar auch dann, wenn sich der Bevollmächtigte weisungswidrig verhält (BFH v. 26.11.2004, II B 37/04, BFH/NV 2005, 1116). Eine Zurechnung entfällt, wenn dem Bevollmächtigten im Zeitpunkt des Fristablaufs bereits wirksam die Steuerberaterzulassung entzogen war (BFH v. 17.03.2010, X R 57/08, BFH/NV 2010, 1780).
- Bedient sich der Betroffene bei der Vornahme der befristeten Handlung einer dritten Person in der Weise, dass diese nicht im eigenen Namen, sondern lediglich als "verlängerter Arm" (Bote, Hilfsperson) des Betroffenen tätig wird, z. B. zur Entgegennahme von Postsendungen, ist Abs. 1 Satz 2 nicht anwendbar. Für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ausschließlich das Verhalten des Betroffenen selbst maßgeblich. Dabei kann dessen Verschulden insbes. in der Auswahl und Einweisung der untergeordneten Hilfsperson (z. B. eines Familienangehörigen) bestehen (BFH v. 19.07.1994, II R 74/90, BStBl II 1994, 946; BFH v. 23.10.2001, VIII B 51/01, BFH/NV 2002, 162; FG Nbg v. 13.07.2016, 5 K 971/15, – juris).
Ob Verschulden vorliegt, ist keine Ermessensfrage, sondern eine Frage der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung. Deshalb ist die Entscheidung der Finanzbehörde auch in vollem Umfang einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich. Zur gesetzlichen Fiktion einer unverschuldeten Fristversäumnis in § 126 Abs. 3 AO bei Begründungs- oder Anhörungsmängeln s. FG Nbg v. 13.07.2016, 5 K 971/15, -juris; s. § 126 AO Rz. 12.