Tz. 11
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die vorzunehmende Aufhebung oder Änderung des Bescheids soll mit Änderungen, die sich aus materiellen Fehlern ergeben, saldiert werden. Materielle Fehler sind nach der Legaldefinition des § 177 Abs. 3 AO alle Fehler, einschließlich offenbarer Unrichtigkeiten i. S. des § 129 AO, die zur Festsetzung einer Steuer führen, die von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer (§ 38 AO) abweicht (z. B. BFH v. 17.03.2010, I R 86/06, BFH/NV 2010, 1779; BFH v. 22.04.2015, X R 24/13, BFH/NV 2015, 1334; AEAO zu § 177, Nr. 6 i. V. m. AEAO zu 129, Nr. 5). Die frühere Rspr., die "offensichtliche Unrichtigkeiten" i. S. des § 129 AO nicht als Rechtsfehler ansah (s. BFH v. 08.03.1989, X R 116/87, BStBl II 1989, 531), ist mit der Neufassung des § 177 Abs. 1 und 2 AO seit 1993 überholt.
Tz. 12
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Im Besteuerungsverfahren ist es Aufgabe der Finanzbehörde, einen steuerlich relevanten Sachverhalt dem Gesetzesbefehl gem. steuerlich zu erfassen. Kommt die Finanzbehörde diesem Gesetzesbefehl nicht nach, ist ihre Entscheidung rechtsfehlerhaft. Der Begriff des Fehlers ist objektiv zu verstehen; d. h., dass es nicht darauf ankommen kann, ob und inwieweit die Finanzbehörde im konkreten Fall tatsächlich und erkennbar Rechtsüberlegungen angestellt hat. Ebenso ist es nicht zu beachten, ob ein Verschulden zu dem Fehler geführt hat (BFH v. 22.04.2015, X R 24/13, BFH/NV 2015, 1334 m. w. N.; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1620). Soweit nachträglich bekannt gewordene Tatsachen oder Beweismittel zu einer Berichtigung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO führen, sind unabhängig von einem groben Verschulden des Stpfl. im Rahmen der Änderung die steuermindernden Tatsachen gem. § 177 AO zu berücksichtigen (BFH v. 10.04.2003, V R 26/02, BStBl II 2003, 785).
Tz. 13
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Materielle Fehler liegen nicht nur vor, wenn die Finanzbehörde beim Erlass des aufzuhebenden oder zu ändernden Bescheids die für den Inhalt der getroffenen Regelung maßgeblichen Rechtsvorschriften außer Acht gelassen oder falsch interpretiert hat, sondern auch die Nichtberücksichtigung von Tatsachen infolge fehlerhafter oder unterbliebener erforderlicher Sachverhaltsermittlung bewirkt letztlich die materielle Unrichtigkeit des Bescheids (BFH v. 05.08.1986, IX R 13/81, BStBl II 1987, 297; BFH v. 01.06.1994, X R 90/91, BStBl II 1994, 849; Loose in Tipke/Kruse, § 177 AO Rz. 4). Auch die unterlassene Umsetzung einer zwischen dem Stpfl. und dem FA getroffenen tatsächlichen Verständigung führt zu einem materiellen Fehler (von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1620a).
Tz. 14
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine Fehlersaldierung ist auch dann zulässig, wenn der Steuerbescheid wegen des Fehlers wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht mehr nach §§ 172ff. AO aufgehoben oder geändert oder nach § 129 AO berichtigt werden kann (BFH v. 10.08.2006, II R 24/05, BStBl II 2007, 87 m. w. N.; auch von Wedelstädt in Gosch, § 177 AO Rz. 15 m. w. N.; a. A. Loose in Tipke/Kruse, § 177 AO Rz. 6; von Groll in HHSp, § 177 AO Rz. 115). Ebenso ist ein materieller Fehler i. S. des § 177 Abs. 3 AO anzunehmen, wenn das FA einen Grundlagenbescheid nicht rechtzeitig ausgewertet hat und daher durch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung an einer Auswertung gehindert ist (BFH v. 09.08.2006, II R 24/05, BStBl II 2007, 87; BFH v. 11.07.2007, I R 96/04, BFH/NV 2008, 6; BFH v. 18.10.2007, V B 48/06, BFH/NV 2008, 191; BFH v. 03.04.2007, I B 156/05, BFH/NV 2007, 1078), dies gilt selbst dann, wenn der ursprüngliche Bescheid zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig war, weil der Grundlagenbescheid noch nicht ergangen war (BFH v. 17.03.2010, I R 86/06, BFH/NV 2010, 1779). In diesem Zusammenhang hat der BVerfG ausdrücklich klargestellt, dass eine solche Auslegung nicht gegen die Grundsätze in Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich garantierten Vertrauensschutzes verstößt (BVerfG v. 10.06.2009, 1 BvR 571/07, BFH/NV 2009, 1578). Dies gilt sowohl in Fällen, in denen die Saldierung jeweils unselbstständige Besteuerungsgrundlagen betrifft, als auch in Fällen, in denen der Übernahme einer gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlage der Eintritt der Festsetzungs-/Feststellungsverjährung entgegensteht (BFH v. 19.05.2006, II B 78/05, BFH/NV 2006, 1620; BFH v. 10.08.2006, II R 24/05, BStBl II 2007, 87; BFH v. 11.07.2007, I R 96/04, BFH/NV 2008, 6; BFH v. 18.10.2007, V B 48/06, BFH/NV 2008, 191). Für den Fall gesondert festzustellender Einkünfte und die auf Folgebescheidsebene entstandene Steuer BFH v. 24.05.2006, I R 93/05, BStBl II 2007, 76; BFH v. 24.05.2006, I R 9/05, BFH/NV 2006, 2019.
Tz. 15
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein Fehler kann aber auch darin liegen, dass die Finanzbehörde einen ihr bekannten Sachverhalt nicht für steuerlich relevant (rechtserheblich) gehalten hat, obwohl der Gesetzgeber auch diesen Sachverhalt (Sachverhaltsausschnitt) in den steuerlichen Tatbestand mit einbezogen ...