Tz. 5
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Steuern entstehen durch Verwirklichung des steuerlichen Tatbestandes (§ 38 AO). Wenn und soweit für die Finanzbehörde die Existenz oder die Ausgestaltung eines steuerlich relevanten Sachverhalts ungewiss ist, kann sie die Steuer vorläufig festsetzen bzw. die Steuerfestsetzung aussetzen.
Tz. 5a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Es muss sich um eine subjektive Ungewissheit der Finanzbehörde in tatsächlicher Hinsicht handeln, die trotz der Erfüllung der vollen Aufklärungspflicht der Finanzbehörde unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit (§ 88 AO) besteht oder deren Beseitigung nur unter unverhältnismäßig großen Schwierigkeiten möglich wäre (h. M., u. a. BFH v. 26.09.1990, II R 99/88, BStBl II 1990, 1043). Eine Ungewissheit auf Seiten des Stpfl. ist unbeachtlich. Sie muss vorübergehender Art sein, d. h. es muss zu erwarten sein, dass sie in absehbarer Zeit beseitigt werden kann und eine abschließende Entscheidung und ggf. geänderte Steuerfestsetzung erfolgen wird. Liegt eine dauernde Ungewissheit vor, so ist die Steuerfestsetzung im Schätzungswege (§ 162 AO) oder, wenn eine Schätzung nicht in Betracht kommt, unter Ansatz der Tatsachen nach den Regeln der objektiven Beweislast durchzuführen.
Tz. 6
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Die Ungewissheit muss sich auf Tatsachen erstrecken, die den gesetzlichen Tatbestand oder einzelne Merkmale des Tatbestandes erfüllen (BFH v. 29.08.2001, VIII R 1/01, BFH/NV 2002, 465 m. w. N.). Unter Tatsache ist jeder Lebensvorgang zu verstehen, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, also tatsächliche Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Dabei kann es sich um einzelne Tatsachen, aber auch um eine Summe von Tatsachen handeln, die ihrerseits den Sachverhalt ausmachen, der unter das Gesetz subsumiert wird. Darunter fallen alle Merkmale, an die die Besteuerung anknüpft, und zwar sowohl steuerliche wie außersteuerliche, wie z. B.
- Tatbestandsmerkmale, die sich aus Hilfstatsachen ableiten lassen, wie z. B. der Wert eines Gegenstandes (BFH v. 20.05.1992, X R 68 – 69/89, BFH/NV 1992, 819), oder die sog. inneren Tatsachen wie z. B. die Einkünfteerzielungsabsicht (h. M.; BFH v. 16.06.2015, IX R 27/14, BStBl II 2016, 144 m. w. N.; Seer, in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 8; s. Rz. 7a),
- außersteuerrechtliche Rechtsverhältnisse, sog. vorgreifliche oder präjudizielle Rechtsverhältnisse (h. M.; BFH v. 24.02.1977, III R 237/72, BStBl II 1977, 392; BFH v. 16.08.1995, VIII B 156/94, BFH/NV 1996, 125) wie Eigentum, das Bestehen von Rechtsverhältnissen oder Rechtsgeschäften o. Ä., z. B. bei den Zuwendungen i. S. des § 4 Abs. 5 Nr. 10 EStG die Klärung der für die Nichtabzugsfähigkeit ausschlaggebenden Frage, ob sie eine rechtswidrige Handlung darstellen, die den Tatbestand eines Strafgesetzes oder eines Gesetzes verwirklichen, das die Ahndung mit einer Geldbuße zulässt,
- Vorfragen steuerrechtlicher Art, die ein anderes Steuerschuldverhältnis oder eine andere Steuerart betreffen und in einem anderen Verfahren getroffen werden (BFH v. 26.10.2005, II R 9/01, BFH/NV 2006, 478 m. w. N.).
Tz. 7
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Die Ungewissheit muss sich darauf beziehen, ob der Steueranspruch bereits entstanden ist. Sie kann daher nur bezüglich der Frage bestehen, ob aufgrund der – zwar tatsächlich verwirklichten, aber mangels besserer Erkenntnis ungewissen – Tatsachen der Steuertatbestand erfüllt ist oder nicht, nicht im Hinblick darauf, ob ein zur Erfüllung des Steuertatbestandes notwendiges Merkmal erst in Zukunft verwirklicht wird (BFH v. 10.08.1994, II R 103/93, BStBl II 1994, 951; Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz. 10; Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 7; von Wedelstädt, AO-StB 2007, 297, 298).
Tz. 7a
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Die Ungewissheit über das Bestehen oder Nichtbestehen innerer Tatsachen (s. Rz. 6) kann sich auch daraus ergeben, dass (mögliche) Anknüpfungstatsachen (Hilfstatsachen), aus denen auf das Vorliegen einer zum Steuertatbestand gehörenden inneren Tatsache geschlossen werden kann, noch nicht vorliegen oder derzeit nicht oder zumindest nicht mit vertretbarem Aufwand festgestellt werden können; denn innere Tatsachen können nur anhand äußerer Umstände (indiziell) und ggf. über einen längeren Zeitraum festgestellt werden (u. a. BFH v. 16.06.2015, IX R 27/14, BStBl II 2016, 144). Die Frage, ob der Stpfl. mit Gewinnerzielungsabsicht i. S. des § 15 Abs. 2 EStG in Abgrenzung zur Liebhaberei oder zur Vermögensverwaltung wie z. B. beim gewerblichen Grundstückshandel gehandelt hat, ist oft erst zu beantworten, wenn weitere Erkenntnisse zum Vorliegen der inneren Tatsache Gewinnerzielungsabsicht – z. B. weitere Grundstücksveräußerungen, tatsächliche Einnahmen – sein Vorliegen belegen. Daher kann die Steuerfestsetzung zunächst unter Offenhaltung bis zur Beseitigung der hinsichtlich dieser Tatbestandsmerkmale bestehenden Ungewissheit vorläufig durchgeführt werden (u. a. BFH v. 16.06....