Tz. 60

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Grundsatz von Treu und Glauben kann gesetztes Recht nur dann verdrängen, wenn das Vertrauen des einen Beteiligten in ein bestimmtes Verhalten des anderen Beteiligten nach allgemeinem Rechtsgefühl in einem so hohen Maß schutzwürdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen (st. Rspr., z. B. BFH v. 09.11.2006, V R 43/04, BStBl II 2007, 344 m. w. N.; BFH v. 06.07.2016, X R 57/13, BStBl II 2017, 334). Dies kommt nur dann in Betracht, wenn dem Stpfl. eine bestimmte steuerrechtliche Behandlung zugesagt worden ist oder wenn die Finanzbehörde durch ihr früheres Verhalten außerhalb einer Zusage einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat (BFH v. 30.03.2011, XI R 30/09, BStBl II 2011, 613 m. w. N.). Hat das FA dem Stpfl. z. B. eine Frist gesetzt, muss es diese beachten (BFH v. 15.05.2013, VIII R 18/10, BStBl II 2013, 669).

 

Tz. 61

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben kann auch nicht verlangt werden, was nachher wieder herausgegeben werden muss – dolo agit qui petit quod statim redditurus est (BFH v. 19.10.1982, VII R 64/80, BStBl II 1983, 541; Neumann in Gosch, § 4 AO Rz. 56).

 

Tz. 62

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Grundsatz von Treu und Glauben setzt zunächst voraus, dass zwischen der Finanzbehörde und dem Stpfl. ein konkretes Steuerrechtsverhältnis besteht, das Grundlage für die Vertrauenssituation ist, die für die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben maßgebend ist (BFH v. 26.01.1994, X R 57/89, BStBl 1994, 597; Neumann in Gosch, § 4 AO Rz. 61). Nur die Beteiligten dieses Verhältnisses sind durch den Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, Dritte können sich nicht darauf berufen (BFH v. 05.05.1993, X R 111/91, BStBl II 1993, 817). So entfaltet ein vertrauensbildendes Verhalten zwischen dem Vater und dem FA auch nach Übergabe des Betriebs keine Wirkung zwischen Sohn und FA (BFH v. 13.09.1988, V R 155/84, BFH/NV 1989, 430). Die erforderliche Identität zwischen den Beteiligten besteht nicht zwischen einer GmbH, für die eine auch als Einzelunternehmer tätige Person als Geschäftsführer gehandelt hat, und dieser Person als Stpfl. (BFH v. 08.02.1996, V R 54/94, BFH/NV 1996, 734). Nach Abschluss des Besteuerungsverfahrens besteht ein Steuerrechtsverhältnis zwischen FA und Stpfl. nicht mehr. Ein solches besteht auch nicht, wenn das FA noch überprüft, ob ein Besteuerungsverfahren einzuleiten ist (BFH v. 23.02.2010, VII R 19/09, BStBl II 2010, 729).

 

Tz. 63

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Der Vertrauenstatbestand setzt ferner ein bestimmtes Verhalten des einen Teils voraus, aufgrund dessen der andere bei objektiver Beurteilung annehmen kann, jener werde an seiner Position oder seinem Verhalten konsequent und auf Dauer festhalten (BFH v. 26.04.1995, XI R 81/93, BStBl II 1995, 754). Dies gilt sowohl zugunsten des Stpfl. als auch zugunsten der Finanzbehörde (Neumann in Gosch, § 4 AO Rz. 66; von Groll, FR 1995, 814). Dabei müssen sich beide Seiten grds. das Verhalten von in das Steuerrechtsverhältnis eingeschalteten Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen (BFH v. 07.11.1990, X R 143/88, BStBl II 1991, 325). Das Verhalten muss so nachhaltig sein, dass der andere daraus Schlüsse ziehen konnte und durfte. Nachhaltigkeit des Verhaltens liegt vor, wenn es sich über einen längeren Zeitraum hin erstreckt. Es kann aber auch in jeder nachdrücklichen Willensäußerung der Verwaltung (z. B. einer Zusage oder früherem Verhalten) liegen, die beim Stpfl. ein berechtigtes Vertrauen auf ein gleichbleibendes Verhalten der Verwaltung begründet (BFH v. 09.11.2006, V R 43/04, BStBl II 2007, 344 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 144).

 

Tz. 64

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Zur Bindungswirkung einer unverbindlichen Auskunft der Finanzbehörde nach Treu und Glauben s. BFH v. 30.03.2011, XI R 30/09, BStBl II 2011, 613. Ein Stpfl. verstößt nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn er, nachdem er in einem Rechtsstreit ein Urteil des Inhalts erstritten hatte, dass ein Vorgang nicht dem streitbefangenen, sondern einem anderen Besteuerungszeitraum zuzuordnen sei, sich in der Folge der Berücksichtigung in dem anderen Besteuerungszeitraum widersetzt mit der Begründung, nach Änderung der Rspr. sei der Vorgang richtigerweise doch in jenem Besteuerungszeitraum zu berücksichtigen, weil die Ursache für das Verhalten des Stpfl. nicht in einem widersprüchlichen und damit treuwidrigen Verhalten, sondern in der Klarstellung der Rechtslage durch ein BFH-Urteil begründet ist (BFH v. 16.04.1997, XI R 66/96, BFH/NV 1997, 738). Dagegen ist das der Fall, wenn ein Stpfl. nach einer Rechtsprechungsänderung die Änderung eines Steuerbescheides erreicht, der konsequenten Änderung eines anderen Steuerbescheids nach § 174 Abs. 4 AO unter Berufung auf § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO aber widerspricht (BFH v. 08.02.1995, I R 127/93, BStBl II 1995, 764; AEAO zu § 176, Nr. 4).

 

Tz. 65

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die äußere Form des Verhaltens ist g...

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