Tz. 11
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Häufig sind in einer Vorschrift unbestimmte Rechtsbegriffe mit Ermessenstatbeständen in dem Sinne "gekoppelt", dass eine Norm auf der Tatbestandsseite unbestimmte Rechtsbegriffe enthält und zudem auf der Rechtsfolgenseite Ermessen einräumt, z. B. § 227 AO. "Koppelungsvorschriften" dieser Art weisen an sich keine Besonderheiten auf, da Tatbestandsseite und Rechtsfolgenseite je nach ihren Regeln zu beurteilen sind (zutr. BVerwG v. 14.11.1973, I WB 159.71, BVerwGE 46, 175; Maurer, § 7 Rz. 48). Hierzu hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes in seiner Entscheidung (GmS v. 19.10.1971, OGB 3/70, BStBl II 1971, 603) bei der Überprüfung der Rechtsnatur eines Billigkeitserlasses (§ 227 AO) indessen Folgendes vertreten: Es kann nicht für alle Vorschriften, in denen eine Verbindung zwischen einem unbestimmten Begriff, der der unmittelbaren Subsumtion nicht zugänglich ist, und einem Ermessensspielraum der Behörde besteht, von vornherein aufgrund dogmatischer Überlegungen bestimmt und festgelegt werden, um welche Art der Kopplung es sich handelt. In Betracht kommt eine Kopplung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und (sich daran anschließender) Ermessensausübung oder eine Ermächtigung zu einer Ermessensausübung, die sich an dem unbestimmten Begriff zu orientieren hat. Im Fall des Billigkeitserlasses bestehe zwischen dem Begriff "unbillig" und der Folge "Ermessensspielraum" eine unlösbare Verbindung. Eine solche Vorschrift könne nicht zum Zwecke der Auslegung in ihre Bestandteile zerrissen werden. Da aber bei der Unterstellung, dass der Begriff "unbillig" ein unbestimmter Rechtsbegriff sei, auch das Ermessen voll justiziabel wäre und da dieses Ergebnis mit dem Sinn und Zweck der als Ermessensvorschrift konzipierten Bestimmung nicht zu vereinbaren sei, gelangt der Gemeinsame Senat zu dem Schluss, dass bei der Besonderheit der dort zu überprüfenden und in ihrem textlichen Zusammenhang zu würdigenden Norm der Begriff "unbillig" in den Ermessensbereich hineinrage und damit zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimme.
Tz. 12
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der BFH folgt dieser Rspr. des Gemeinsamen Senates der Obersten Gerichtshöfe bis heute (BFH v. 30.03.2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612; BFH v. 23.06.1998, V B 60/96, BFH/NV 1999, 11, 12 m. w. N.). Auch in weiten Teilen der Literatur wird diese Auffassung unkritisch übernommen (z. B. Fritsch in Koenig, § 227 AO Rz. 51; von Groll in HHSp, § 227 AO Rz. 113 ff.;). Sie ist indessen abzulehnen, da sie nicht zu überzeugen vermag. Sie wird daher sowohl im allgemeinen Verwaltungsrecht (zutr. Maurer, § 7 Rz. 50: "dogmatisch schwerlich haltbare Entscheidung") als auch im Steuerrecht (Drüen in Tipke/Kruse, § 5 AO Rz. 25 ff.; Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz. 22; Rüsken in Klein, § 227 AO Rz. 118) völlig zu Recht abgelehnt. Richtig ist hingegen, dogmatisch zutreffend zwischen Tatbestand und Rechtsfolge zu trennen. Sind die Tatbestandsmerkmale erfüllt (z. B. die "Unbilligkeit" in § 227 AO), so ergibt sich nur noch eine einzige rechtmäßige Rechtsfolge (bei § 227 AO also der Erlass des betroffenen Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis). Welche rechtmäßige Handlungsalternative sollte denn noch bestehen, wenn z. B. "die Einziehung im Einzelfall unbillig ist" (§ 227 AO)? Die h. M. verkennt, dass sich § 227 AO als sachliche Rechtfertigung zur Durchbrechung des aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (vgl. auch § 85 AO) darstellt (hierzu s. § 3 AO Rz. 17 ff.). Daraus folgt, dass § 227 AO eine reine Kompetenznorm darstellt, die es der Behörde erlaubt, abweichend von diesem Grundsatz ausnahmsweise einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zu erlassen, ihr dabei aber keinerlei Ermessen einräumt, sondern die Behörde zu einer gebundenen Entscheidung verpflichtet (vgl. Wernsmann in HHSp, § 5 AO Rz. 94).