Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 165 Abs. 1 Satz 2 AO erweitert die Möglichkeit, Steuern vorläufig festzusetzen, auf Tatbestände, die eine rechtliche Ungewissheit zum Inhalt haben.
1. Ungewissheit über Verträge mit anderen Staaten (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AO)
Tz. 10
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die vorläufige Festsetzung einer Steuer ist auch dann zulässig, wenn sich die Ungewissheit auf das anzuwendende Recht insoweit bezieht, als ungewiss ist, ob und wann ein Doppelbesteuerungsabkommen mit einem anderen Staat, das sich zugunsten des Stpfl. auswirken würde, für die Steuerfestsetzung wirksam wird. Für die Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung ist ausreichend, wenn nach den Umständen zu erwarten ist, dass ein derartiges Abkommen rückwirkend anzuwenden sein wird.
2. Verpflichtung zu gesetzlicher Neuregelung (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO)
Tz. 11
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine vorläufige Festsetzung ist zulässig in Fällen, in denen das BVerfG ein Steuergesetz für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt und den Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet hat, nicht aber im Fall seiner Nichtigerklärung, § 78 BVerfGG. Damit soll verhindert werden, dass Einsprüche allein deshalb eingelegt werden, um an der erforderlichen Neuregelung teilzuhaben, sofern der Gesetzgeber diese nicht rückwirkend vornimmt und die Änderung bestandskräftiger Festsetzungen in die Neuregelung einbezieht. Voraussetzung ist, dass eine entsprechende Entscheidung des BVerfG bereits vorliegt und die gesetzliche Neuregelung noch aussteht (AEAO zu § 165, Nr. 3).
3. Bedarf für gesetzliche Neuregelung (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a AO)
Tz. 11a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Auch aufgrund einer Entscheidung des EuGH kann sich ergeben, dass eine gesetzliche Neuregelung notwendig wird. Anders als in § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO wird nicht verlangt, dass der Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet wird. Voraussetzung ist, dass eine entsprechende Entscheidung des EuGH bereits vorliegt und die gesetzliche Neuregelung noch aussteht (AEAO zu § 165, Nr. 3). Die durch das StModernG v. 18.07.2016 mit Wirkung vom 01.01.2017 eingefügte Regelung ermöglicht in diesem Fall eine vorläufige Steuerfestsetzung.
4. Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO)
Tz. 12
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein Steuerbescheid kann auch dann für vorläufig erklärt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens (Musterprozess) beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist, nicht aber beim EGMR (Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 15 m. w. N.). Diese Regelung dient vor allem der Vermeidung von Einsprüchen, die vorsorglich eingelegt werden, weil Entscheidungen des BVerfG nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bestandskräftige Bescheide unberührt lassen und auch keine Grundlage für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO oder § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bilden. Sie schränkt den Rechtsschutz des Stpfl. nicht in verfassungswidriger Weise ein. Der Rechtsschutz wird auch nicht dadurch in verfassungswidriger Weise eingeschränkt, dass die Finanzbehörde auf einen Einspruch des Stpfl. gegen die Steuerfestsetzung vorab über entscheidungsreife Teile seines Einspruchs entscheidet (BFH v. 30.09.2010, III R 39/08, BStBl II 2011, 11 m. w. N.). Durch die vorläufige Steuerfestsetzung wird sichergestellt, dass eine eventuelle Gesetzesänderung aufgrund einer Entscheidung des BVerfG auch bei einer schon durchgeführten Steuerfestsetzung zugunsten des Stpfl. berücksichtigt werden kann. Einsprüche aus diesem Grund sind also nicht mehr erforderlich. § 171 Abs. 8 AO regelt in diesen Fällen eine Ablaufhemmung von zwei Jahren.
Tz. 13
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Voraussetzung für die Vorläufigkeit ist, dass wegen der Frage der Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht ein Verfahren vor den genannten Gerichten anhängig ist (BFH v. 06.10.1995, III R 52/90, BStBl II 1996, 20). Hat sich das Verfahren, das Anlass für die vorläufige Festsetzung war, in welcher Weise auch immer erledigt, ist aber inzwischen ein anderes einschlägiges Verfahren anhängig geworden, bleibt der Tatbestand des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gleichwohl erfüllt, sofern die Vorläufigkeit nicht beschränkt ist auf die zum Zeitpunkt der vorläufigen Festsetzung anhängigen Verfahren. Sind die Musterverfahren, die der vorläufigen Festsetzung zugrunde liegen, auf welche Weise auch immer beendet, ist die Ungewissheit entfallen, selbst wenn die betreffende Rechtsfrage noch nicht entschieden ist (BFH v. 30.09.2010, III R 39/08, BStBl II 2011, 11 m. w. N.). Die Anhängigkeit bei einem oder mehreren FG genügt nicht. Das BMF teilt in dem im BStBl I veröffentlichten Schreiben den Katalog der Punkte mit, derentwegen Steuerbescheide vorläufig – regelmäßig automationsgesteuert – ergehen sollen. Nicht erforderlich ist, dass die zur Entscheidung berufene Finanzbehörde von der Anhängigkeit Kenntnis hat oder haben müsste (BFH v. 18.12.2001, VIII R 27/96, BFH/NV 2002, 747). Der Vorläufigkeitsvermerk kann nicht auf sämtliche noch offenen Fragen der Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts bezogen werden (BFH v. 02.07.2008, X B 39/08, BFH/NV 2008, 1645). Das auf dem Prüfstand stehende Steuergesetz muss für die fragliche Besteuerung relevant...