Karl Blesinger, Dr. Andreas Viertelhausen
Schrifttum
Leibner/Pump, Die Vorschriften des § 75 AO und § 25 HGB – Wege zur zivilrechtlichen und steuerlichen Haftungsvermeidung, DStR 2002, 1689; Klein, Steuerliche Haftung beim Immobilienerwerb, DStR 2005, 1753;
Gehm, Die Haftung nach § 75 AO – Risikoprofil in der Praxis, StBp 2015, 317.
A. Bedeutung der Vorschrift
Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 75 Abs. 1 AO ordnet die Haftung des Erwerberseines Unternehmens oder gesondert geführten Betriebs für betriebliche Steuern und Steuerabzugsbeträge an, die vor der Übereignung des Unternehmens (Betriebes) an den Erwerber entstanden, aber noch nicht entrichtet sind. Ihre Rechtfertigung findet die Regelung darin, dass der Erwerber durch die Übernahme der Vermögenswerte des Schuldners auch die bisher dem Schuldner zur Seite stehenden Sicherheiten in die Hand bekommt (BFH v. 28.11.1973, I R 129/71, BStBl II 1974, 145). Durch Übernahme des lebensfähigen Betriebs erhält der Erwerber auch das Instrumentar übertragen, mit dem die betrieblichen Steuern erwirtschaftet werden können, ohne die bei Neugründungen erfahrungsgemäß meist auftretenden Anlaufverluste in Kauf nehmen zu müssen. Der Haftungstatbestand orientiert sich an dem Unternehmerbegriff in § 2 Abs. 1 UStG.
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die gesetzliche Haftung nach § 25 HGB bleibt unberührt. Diese Bestimmung unterscheidet sich von der vorliegenden weitgehend nach Haftungstatbestand und -umfang, denn § 25 HGB knüpft an die Fortführung einer Firma an und ordnet die Haftung für alle im Betrieb des Geschäfts begründeten Verbindlichkeiten des früheren Inhabers (zur Abgrenzung: BFH v. 06.04.2016, I R 19/14, BFH/NV 2016, 1491).
B. Haftungstatbestand
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der die Haftung auslösende Tatbestand ist die Übereignung eines Unternehmens oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebes im Ganzen (s. AEAO zu § 75, Nr. 3).
I. Unternehmen oder Betrieb
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Unternehmen ist eine wirtschaftliche, Betrieb eine technische Einheit sachlicher und persönlicher Mittel. Beim Unternehmen liegt das Schwergewicht auf dem Streben nach Umsatz bzw. Gewinn, beim Betrieb auf der Erstellung einer (technischen, merkantilen) Leistung. Jedes Unternehmen muss einen Betrieb haben, es kann aber auch aus mehreren Betrieben bestehen, gleichgültig ob diese eine wirtschaftliche Einheit bilden.
Tz. 5
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein Betrieb fällt nur dann unter die Haftungsvorschrift, wenn er gesondert geführt wird, obwohl er Glied eines Unternehmens ist. Es muss sich um einen organisatorisch selbstständigen Teil eines Unternehmens handeln, der für sich allein lebensfähig ist und der schon in der Hand des Veräußerers unabhängig von den anderen Geschäften des Veräußerers betrieben worden ist. Bei der Beurteilung ist allein auf die wirtschaftliche Selbstständigkeit abzustellen, die weder aus der Führung einer einheitlichen Firma noch aus einheitlicher Buchführung allein geleugnet werden kann. Vielmehr ist nach der Verkehrsauffassung zu entscheiden, ob sich die Unternehmensteile als wirtschaftlich selbstständig oder unselbstständig darstellen. Bei der Beurteilung dieser Frage können die für den Begriff des Teilbetriebs (s. §§ 14, 16 EStG) maßgeblichen Merkmale berücksichtigt werden (BFH v. 03.12.1985, VII R 186/83, BFH/NV 1986, 315). Ausschlaggebend ist, dass der Unternehmensteil nach seiner Loslösung aus seinem bisherigen Zweckzusammenhang als selbstständiges Unternehmen fortgeführt werden kann. Beispiele: Zuckerrübenfabrik eines Landgutes, Strumpffabrik einer Garnspinnerei, Zeche oder Verhüttungsbetrieb eines Unternehmens der eisenverarbeitenden Industrie, Lichtspieltheater einer Filmgesellschaft, Konservenfabrik einer Lebensmittelhandelsgesellschaft, Sägewerk eines forstwirtschaftlichen Betriebs, Kaffeegeschäft einer Kaffeerösterei (FG Bln v. 28.07.1966, I 139/65, EFG 1967, 49).
Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Als Unternehmen i. S. von § 75 Abs. 1 AO kommen neben gewerblichen Unternehmen auch die land- und forstwirtschaftlichen Betriebe in Betracht. Für die Frage, ob ein Unternehmen im Ganzen übereignet wird, ist die ertragsteuerliche Qualifikation der Einkünfte unerheblich. Maßgebend ist der Begriff des § 2 Abs. 1 UStG. Auch ein umsatzsteuerpflichtig vermietetes Grundstück ist nach Auffassung des BFH (BFH v. 11.05.1993, VII R 86/92, BStBl II 1993, 700; a. A. Klein, DStR 2005, 1753) ein Unternehmen i. S. der Vorschrift. Auch freiberuflich ausgeübte Tätigkeiten fallen grundsätzlich unter § 75 Abs. 1 AO. Soweit die selbstständige Tätigkeit im Wesentlichen auf persönliche Fähigkeiten und Arbeitsleistung ohne nennenswerten Einsatz sachlicher Mittel gestützt ist, kommt eine Übertragung nicht infrage. Es fehlt insoweit an übereignungsfähigen wesentlichen Betriebsgrundlagen. Eine eingespielte Organisation, ein fester Kunden- oder Mandantenstamm oder ähnliche Merkmale können jedoch auch bei selbstständig Tätigen die Anwendung des § 75 Abs. 1 AO rechtfertigen.
Tz. 7
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Das Unternehmen oder der Betrieb muss ein lebende...