Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Preißer
Rz. 20
Als Inländer i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG gelten Personen, die im Inland einen Wohnsitz haben. Der Begriff des Wohnsitzes findet sich in § 8 AO. Demnach hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Dies setzt immer eine Rückkehrabsicht ("animus revertendi") und eine Verfügungsbefugnis voraus (sie fehlt etwa bei einem Hotelgast im Hotel oder bei einem Strafgefangenen in einer JVA). Der Wohnsitzbegriff selbst setzt eine feste Verbindung mit dem inländischen Territorium voraus, die z. B. bei einem Wohnwagen auf einem Campingplatz nicht gegeben ist.
Rz. 21
Bei der Prüfung eines inländischen Wohnsitzes sind nach der Rechtsprechung der Finanzgerichte folgende Punkte zu beachten:
- Eine natürliche Person kann gleichzeitig mehrere Wohnsitze im In- und im Ausland haben (s. BFH vom 19.03.1997, BStBl II 1997, 447).
- Am Ort der inländischen Wohnung muss sich nicht der Mittelpunkt der Lebensinteressen befinden (s. BFH vom 24.01.2001, BFH/NV 2001, 1402).
- Die Wohnung muss zum dauernden Aufenthalt von Personen geeignet, jedoch nicht unbedingt bestimmt sein (s. BFH vom 24.04.1991, BStBl II 1991, 683).
- Es ist ausreichend, wenn die Wohnung dem Inhaber jederzeit zur Verfügung steht. Nicht maßgeblich ist, dass sie dauernd von ihrem Inhaber genutzt wird (s. BFH vom 17.05.1995, BStBl II 1996, 2; s. BFH vom 26.02.1986, BFH/NV 1987, 301).
- Auch eine Nutzung der inländischen Wohnung regelmäßig zweimal jährlich zu bestimmten Zeiten über mehrere Wochen führt zur Annahme eines Wohnsitzes i. S. d. § 8 AO 1977 (s. BFH vom 23.11.1988, BStBl II 1989, 182).
Der Annahme eines Wohnsitzes steht nicht entgegen, dass die Wohnung nicht mit eigenen Möbeln ausgestattet ist (FG Hamburg vom 18.02.1988, EFG 1988, 424).
Die Wohnung muss in objektiver Hinsicht dem Steuerpflichtigen jederzeit (wann immer er es wünscht) als Bleibe zur Verfügung stehen und zudem in subjektiver Hinsicht von ihm zu einer entsprechenden Nutzung, d. h. für einen jederzeitigen Wohnaufenthalt bestimmt sein. In dieser zur objektiven Eignung hinzutretenden subjektiven Bestimmung liegt der Unterschied zwischen dem bloßen Aufenthaltnehmen in einer Wohnung und dem Wohnsitz (BFH vom 13.03.2013, BFH/NV 2014, 1046).
Rz. 22
Auch eine regelmäßig genutzte Zweitwohnung begründet somit einen inländischen Wohnsitz (ein Hauptwohnsitz im Ausland steht dem nicht entgegen; s. BFH vom 19.03.1997, BStBl II 1997, 447). Eine nur gelegentlich genutzte Ferienwohnung soll dagegen nicht zur Annahme eines inländischen Wohnsitzes führen. Weitere Einzelheiten hierzu vgl. Buciek in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 8 AO Rn. 8 ff; Koenig in Pahlke/Koenig, AO, § 8 AO Rn. 4 ff.; Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 8 AO Rn. 5 ff. und Högl in G/L, § 2 ErbStG Rn. 34 ff.)
Hauptkriterium: Familienwohnsitz
Bei Auslandsbeschäftigten wird als maßgebliches Kriterium für das "Innehaben" einer Wohnung der Umstand herangezogen, sich am Wohnsitz der Familie aufzuhalten und dorthin zurückzukehren. Dieser seit dem Urteil des BFH aus dem Jahre 1964 (HFR 1965, 268) aufgestellte Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos und hat in den 55 Jahren seit der Leitentscheidung einige Durchbrechungen erfahren (s. die Beispiele bei Högl in S/L, § 2 ErbStG Rz. 37). Als Aufgriffskriterium erscheint es heute nicht mehr den geänderten Lebensverhältnissen zu entsprechen.
Problemfall: Studierende
Selbst in (früheren) Zeiten von Präsenzvorlesungen wird immer noch ein BFH-Urteil aus dem Jahre 1961 zitiert (BFH vom 17.03.1961, BStBl III 1961, 298), wonach Studierende keinen Wohnsitz in der Universitätsstadt haben sollen, sondern im Zweifel zur elterlichen Wohnung zurückkehren. Die Entscheidung mutet zumindest bei den Studenten anachronistisch an, denen eine dauerhafte Studentenbleibe am Ort der Universität eingerichtet wurde; hier wäre ein Ausnahmezweifel angebracht. Wiederum anders – "tempora mutantur et nos in illis" – dürfte es in der Zukunft der universitären Online-Veranstaltungen aussehen, wo die Vorlesungen aus dem elterlichen Wohnzimmer verfolgt werden (elterlicher Wohnsitz).
Rz. 23
Bei doppeltem (oder mehrfachem) Wohnsitz in verschiedenen Ländern haben beide (mehrere) Staaten das Besteuerungsrecht. Die Entscheidung nach dem primären Besteuerungsregime wird sich sodann nach den jeweiligen DBA (und deren Wohnsitzbegriffen) richten (BFH vom 31.10.1991, BStBl II 1991, 562).
Für die Frage der subjektiven Steuerpflicht (beschränkte/unbeschränkte Steuerpflicht) ist hingegen allein der Wohnsitzbegriff des § 8 AO entscheidend (BFH vom 13.10.1965, BStBl III 1965, 738).