Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Preißer
Rz. 9
Eine ähnliche Konstellation kann sich in Nacherbschaftsfällen ergeben. Nachdem der Nacherbe gem. § 6 Abs. 2 ErbStG steuerlich vom Vorerben erbt, stellt sich für den Fall, dass dieser zusätzlich eigenes Vermögen des Vorerben erhält, die Frage, ob in diesem Fall § 14 ErbStG anwendbar ist. Hierzu gibt es im Schrifttum unterschiedliche Auffassungen, der BFH hat in der Entscheidung vom 02.12.1998 (BStBl II 1999, 235) nur ein Randproblem gestreift.
Aus § 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG (Antrag des Nacherben auf Steuerklasse nach dem Erblasser) schlussfolgert die wohl h.A. in der Literatur (Jülicher in T/G/J/G, § 14 Rn. 35 sowie K/E, § 14 Rn. 43), dass bei einem gestellten Antrag auch die Notwendigkeit der Zusammenrechnung des Nacherben-Erwerbs mit Vorerwerben des Erblassers innerhalb des Zehnjahreszeitraumes folge. Die Mindermeinung (Weinmann in M/W, § 14 Rn. 36) belässt es bei Rechtsfolge nach Satz 3 (Steuerklassenprivileg zum Erblasser) und sieht für eine extensive Auslegung keine Notwendigkeit, da sich aus § 6 Abs. 2 Satz 3 ff. ErbStG nicht eine durchgehende Verklammerung des Nacherbschaftsfalls mit dem Erblasser-Vermögen und den abgeleiteten Vorerwerben ergibt.
Der BFH hat am 02.12.1998 (s. BStBl II 1999, 235) zu einem Teilaspekt der Problematik Stellung genommen (s. § 6 Rn. 58 ff.). Im Fall des Doppelerwerbs des Nacherben (Erblasser-Vermögen sowie eigenes Vermögen des Vorerben) stehen das Trennungsdogma von § 6 Abs. 2 Satz 3 ErbStG (zwei Steuerklassen) und die gleichzeitig formulierte Einheitsvorstellung von § 6 Abs. 2 Satz 4 ErbStG (Abhängigkeit des Freibetrages nach dem Vorerben – Nachlass vom "Verbrauch" des Freibetrages nach dem Erblasser-Vermögen) in Widerspruch. Die Erklärungsversuche des BFH lauteten:
- Der Abzug des für das eigene Vermögen des Vorerben zu gewährenden Freibetrags ist jedoch nur insoweit zulässig, als der Freibetrag für das der Nacherbfolge unterliegende Vermögen nicht verbraucht ist (Wiedergabe des Gesetzestextes).
- § 6 Abs. 2 Satz 4 ErbStG ist nicht dahingehend auszulegen, dass der für das Verhältnis Erwerber/Vorerbe maßgebliche Freibetrag um den nicht verbrauchten Teil des auf die Nacherbschaft entfallenden Freibetrags erhöht werden soll.
Eine Klärung zu einem Teilaspekt brachte das BFH-Urteil vom 03.11.2010 (DStR 2010, 2567):
Für den Fall, dass ein Nacherbe nach § 7 Abs. 2 Satz 1 ErbStG beantragt, der Versteuerung der Vermögensübertragung sein Verhältnis zum Erblasser zugrunde zu legen – wenn ein Vorerbe das Vermögen auf den Nacherben überträgt –, handelt es sich auch dann um einen gem. § 14 Abs. 1 ErbStG mit einem späteren Erwerb des Nacherben vom Vorerben zusammenzurechnenden Erwerb vom Vorerben. Bei der Versteuerung des späteren Erwerbs des Nacherben vom Vorerben ist in diesem Fall § 7 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 6 Abs. 2 Satz 3 bis 5 ErbStG entsprechend anzuwenden.
Rz. 10
Sibyllinisch äußert sich der BFH in der Entscheidung vom 28.02.2007 (BFH/NV 2007, 919), als er für diesen Fall des Doppelerwerbs gleichwohl von einem (jeweils) einheitlichen Wert i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG ausgeht und weiter ausführt, dass der (Einheits-)Grundsatz durch die Regelungen in § 6 Abs. 2 Sätze 2 bis 5 ErbStG lediglich modifiziert, aber nicht gänzlich aufgehoben werde. Losgelöst von der getrennten Steuerklasse gehe das Gesetz weiterhin davon aus, dass ein einheitlicher Erwerb vorläge.
Bei der Klärung dieser höchstrichterlich noch nicht entschiedenen Frage (Zusammenrechnung der Vorschenkungen des Erblassers und des Nacherbenerbanfalls innerhalb des Zehnjahreszeitraums) kommt man an den herkömmlichen Auslegungsmethoden nicht vorbei:
Die Steuerklassenoption nach dem Erblasser (§ 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG) betrifft eine mögliche Rechtsfolge bei § 14 ErbStG, wenn zwischen Vorerwerb und Letzterwerb ein Steuerklassenwechsel erfolgte (z. B. durch Adoption). Insoweit ist das Trennungsdogma ein erster Anhaltspunkt. Mehr an grammatikalischer Ableitung ist nicht leistbar.
Nach der systematischen Stellung beider Normen ist § 6 ErbStG (objektive Besteuerungsmerkmale) sicher vorrangig vor § 14 ErbStG ("Rechenvorschrift") zu interpretieren. Nachdem § 6 ErbStG ohnehin von der Regelung der §§ 2100 ff. BGB (Nacherbe ist Erbe des Erblassers), d. h. vom Zivilrecht, abweicht, ist diese für das ErbSt-Recht bindende Wertung hier vorrangig zu berücksichtigen.
Andere teleologische Gründe sind nicht ersichtlich.
Fazit: Bei einer wie hier vorliegenden offenen Normenkonkurrenz ist der Wertung des § 6 ErbStG zu folgen. Die Option zur getrennten Steuerklasse ist als wertender Beleg für eine eigenständige, d. h. restriktive Auslegung des § 14 ErbStG zu entnehmen. Der Mindermeinung ist daher zu folgen. Es kommt in den Fällen des Doppelerwerbs des Nacherben mit Steuerklassenoption zu keiner Zusammenrechnung mit etwaigen Vorerwerben vom Erblasser.
Rz. 11–14
vorläufig frei