Rz. 6
Die Stellung des Vorerben ist von zwei gegenläufigen Aspekten geprägt. So ist zum einen zu berücksichtigen, dass der Vorerbe vollwertiger Erbe ist, zum anderen aber, dass im Interesse des Nacherben die Substanz des Nachlasses erhalten bleiben soll. Je nachdem, welchen Aspekt der Erblasser stärker betonen will, wird er den Vorerben als befreiten oder nicht befreiten Vorerben einsetzen. Bei Einsetzung des Nacherben nur auf den Überrest (§ 2137 BGB) ist die Befreiung des Vorerben am umfangreichsten. Hingegen können die Beschränkungen des Vorerben in der Praxis noch zusätzlich durch die Einsetzung einer Testamentsvollstreckung verstärkt werden.
2.2.1 Der Vorerbe als Vollerbe
Rz. 7
Der Vorerbe ist Vollerbe. Auf ihn gehen das gesamte Vermögen (§ 1922 BGB), der Besitz des Erblassers (§ 857 BGB) und dessen Verbindlichkeiten (§ 1967 BGB) über. Für den Fall, dass der Vorerbe persönlicher Schuldner des Erblassers ist, tritt Konfusion ein. Gleiches gilt für Reallasten. Diese werden nach § 889 BGB Reallasten des Vorerben. Zu beachten ist jedoch, dass derartig erloschene Rechtsverhältnisse mit Eintritt des Nacherbfalls wieder aufleben (§ 2143 BGB).
Rz. 8
Der Vorerbe ist berechtigt, i. R.d. gesetzlichen Beschränkungen über den Nachlass zu verfügen. Ihm ist ein Erbschein auszustellen, allerdings verbunden mit einem Nacherbenvermerk (§ 2363 BGB; s. auch OLG Hamm vom 15.12.2015, ZEV 2016, 200 sowie Zimmer, ZEV 2014, 526). Gleichfalls wird der Vorerbe im Handelsregister eingetragen, wenn zum Nachlass ein Handelsgeschäft oder ein Gesellschaftsanteil gehört. Er ist berechtigt an Gesellschafterversammlungen teilzunehmen und dort Entscheidungen zu treffen, die den Interessen des Nacherben u. U. zuwiderlaufen können. Gehören zum Nachlass Grundstücke oder grundstücksgleiche Rechte, ist gem. § 51 GBO das Grundbuch von Amts wegen zu berichtigen und der Vorerbe als Eigentümer einzutragen, allerdings auch hier verbunden mit einem Nacherbenvermerk (BGH vom 12.07.2018, ZEV 2018, 657). Zur Löschung des Nacherbenvermerks vgl. OLG Hamm vom 13.03.2019, ErbR 2019, 442. Ebenfalls ist der Vorerbe prozessführungsbefugt.
Rz. 9
Tritt der Nacherbfall nicht ein, was bspw. dann der Fall ist, wenn der Vorerbe den Nacherben beerbt, so erstarkt die bisher zeitlich begrenzte Erbenstellung des Vorerben zu einer zeitlich unbegrenzten und bestehende Beschränkungen entfallen.
2.2.2 Die Beschränkungen des Vorerben
Rz. 10
Aus der zeitlich begrenzten Erbenstellung des Vorerben ergibt sich, dass der Nachlass im Hinblick auf die angeordnete Nacherbschaft geschützt werden muss. Deshalb ist der Vorerbe in seiner Verfügungsbefugnis über den Nachlass beschränkt (§§ 2113–2115 BGB, s. auch BGH vom 27.01.2016, WuM 2016, 227). Diese Nachlassbeschränkungen können durch den Erblasser jedoch unterschiedlich ausgestaltet werden, sodass bei wirtschaftlicher Betrachtung die Vorerbenstellung einem fast uneingeschränkten Volleigentum am Erbschaftsvermögen gleichen kann (bspw. wenn der Nacherbe nur auf den Überrest eingesetzt ist) oder aber sich lediglich einem Nießbrauchsrecht am Erbschaftsvermögen annähert. Im ersten Fall scheint die volle Besteuerung des Vorerben auch sachgerecht (Einzelheiten s. Rn. 24 ff.).
Rz. 11
Einem Nießbrauchsrecht angenähert ist die Stellung des Vorerben, wenn der Erblasser den Vorerben nicht von den gesetzlichen Verfügungsbeschränkungen der §§ 2113 ff. BGB befreit (nicht befreiter Vorerbe). Dann sind Verfügungen über zum Nachlass gehörende Grundstücke und grundstücksgleiche Rechte unwirksam, soweit sie das Recht des Nacherben vereiteln oder beeinträchtigen (§ 2113 Abs. 1 BGB). Gleiches gilt für unentgeltliche Verfügungen über Nachlassgegenstände (§ 2113 Abs. 2 BGB), wobei eine unentgeltliche Verfügung bereits dann anzunehmen ist, wenn das Entgelt nicht den vollen objektiven Wert erreicht. Teilweise Unentgeltlichkeit führt daher bereits zur Gesamtunwirksamkeit der Verfügung (BGH vom 16.03.1977, NJW 1977, 1631 sowie OLG Bamberg vom 08.05.2009, ErbBstg 2010, 66). Inwieweit bei einem nicht befreiten Vorerben die volle Besteuerung sachgerecht ist, scheint zweifelhaft (Einzelheiten s. Rn. 28, 30 ff.).
Rz. 12
Stimmt der Nacherbe allerdings einer Verfügung des Vorerben zu, so hat dies die Wirksamkeit der Verfügung zur Folge (gem. § 2120 BGB besteht in gewissem Umfang eine Zustimmungspflicht des Nacherben). Der Schutz des Nacherben ist dann nicht mehr erforderlich (vgl. auch OLG Hamm vom 13.05.2016, ZEV 2016, 638). Verfügt der Vorerbe ohne Zustimmung des Nacherben, so können zu Gunsten des Erwerbers die Vorschriften des Erwerbs von Nichtberechtigten zum Tragen kommen (s. FG Münster vom 14.02.2019, EFG 2019, 730). Zu Schadensersatzansprüchen des Nacherben gegen den Vorerben vgl. Muscheler, ZEV 2012, 389.
Rz. 13
Der Erblasser kann die Stellung des nicht befreiten Vorerben noch zusätzlich einschränken, indem er Testamentsvollstreckung anordnet. Dann ist nur der Testamentsvollstrecker über den Nachlass verfügungsberechtigt. Des Weiteren ist der Vorerbe verpflichtet, ein Verzeichnis der Nachlassgegenstände vorzulegen (§ 2121 BGB) und...