Rz. 23
Zivilrechtlich sind Vor- und Nacherbe in zeitlicher Reihenfolge Erben desselben Erblassers und desselben Nachlasses, wenngleich sich der Nachlass durch Wertveränderung oder Surrogation bis zum Zeitpunkt des Nacherbfalls verändern kann. Hängt der Nacherbfall vom Tod des Vorerben ab, erwerben beide durch Erbanfall, sodass jeweils ein Fall des § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG vorliegt, was zu einem doppelten steuerlichen Zugriff führt. Dies rechtfertigt der BFH durch einen Vergleich mit dem Erben. Vererbt der Großvater sein Vermögen dem Vater und dieser dem Sohn, so liegen zwei § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG unterfallende Vorgänge vor. Dies ist im wirtschaftlichen Ergebnis mit dem Fall der Vor- und Nacherbschaft – abgesehen von einer eventuellen Beschränkung des Vorerben (s. Rn. 11) – vergleichbar und rechtfertigt auch, bei der Vor- und Nacherbschaft zwei getrennt voneinander zu beurteilende Erbfälle anzunehmen und damit auch den doppelten steuerlichen Zugriff (s. BFH vom 21.12.2000, BFH/NV 2001, 798).
Im Unterschied zum Fall des Erbeserben sind aber bei der Vor- und Nacherbschaft zivilrechtlich sowohl Vor- als auch Nacherbe Erben desselben Erblassers. Mit diesem zivilrechtlichen Grundsatz bricht das Erbschaftsteuerrecht und fingiert, dass beim Eintritt des Nacherbfalles durch Tod des Vorerben der auf den Nacherben übergehende Nachlass als vom Vorerben stammend anzusehen ist (§ 6 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 ErbStG). Der Dogmatik des Erbrechts wird erbschaftsteuerlich sodann dadurch Rechnung getragen, dass dem Nacherben auf Antrag die Möglichkeit eingeräumt wird, der Versteuerung das Verhältnis zum Erblasser zu Grunde zu legen (§ 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG). Die Sätze 3 bis 5 des § 6 Abs. 2 ErbStG sehen sodann Detailregelungen hinsichtlich Steuerklasse, Freibetrag und Steuersatz für den (Spezial-)Fall vor, dass der Nacherbe neben dem Vermögen des Erblassers auch noch sonstiges Vermögen des Vorerben erbt.
Rz. 24
Anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn der Nacherbfall nicht vom Tod des Vorerben, sondern von einem anderen Ereignis, z. B. der Wiederverheiratung des Vorerben, abhängt. Zwar liegt hier ebenfalls ein weiterer Vermögensübergang auf den Nacherben vor, es fehlt jedoch an einem weiteren Erwerb von Todes wegen, da der Nacherbfall gerade nicht durch den Tod des Vorerben veranlasst ist und auch keine freigebige Zuwendung des Vorerben an den Nacherben vorliegt, denn der Erwerb geschieht nicht in Bereicherungsabsicht, sondern durch Bedingungseintritt. Daher geht § 6 Abs. 3 Satz 1 ErbStG von einem auflösend bedingten Erwerb des Vorerben und von einem aufschiebend bedingten Erbfall des Nacherben aus. Nach allgemeinen steuerlichen Grundsätzen ist daher der Umstand der zeitlichen Befristung der Vorerbschaft sowie eventueller Beschränkungen des Vorerben zunächst unbeachtlich (§ 12 Abs. 1 ErbStG, § 5 Abs. 1, § 9 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 BewG). Mit Eintritt des Nacherbfalles wäre allerdings gem. § 5 Abs. 2 BewG eine Berichtigung der Steuerfestsetzung gegen den Vorerben erforderlich.
Rz. 25
Diesen Weg der Steuerberichtigung hat der Gesetzgeber jedoch nicht gewählt. Vielmehr hat er in § 6 Abs. 3 Satz 2 ErbStG von einer Steuererstattung an den Vorerben Abstand genommen und stattdessen eine Anrechnung der gegen den Vorerben festgesetzten Steuer auf die Steuerlast des Nacherben vorgesehen, wobei die tatsächliche Bereicherung des Vorerben (Nutzung) allerdings den Anrechnungsbetrag mindert (im Einzelnen s. Rn. 65 ff.). Die vom Gesetzgeber insoweit in § 6 Abs. 3 Satz 2 ErbStG vorgenommene Regelung ist unsystematisch, da sie einerseits bei der Bewertung der Vorerbschaft auf die allgemeine Regelung des § 5 Abs. 1 BewG rekurriert, andererseits aber bei der Beendigung der Vorerbschaft nicht auf § 5 Abs. 2 BewG zurückgreift und damit dem Vorerben eine Berichtigung der Steuerfestsetzung versagt. Die dafür gewährte Steueranrechnung beim Nacherben gem. § 6 Abs. 3 Satz 2 ErbStG führt im Ergebnis zu einer Verschiebung der Steuerbelastung zu Gunsten des Nacherben unter Belastung des Vorerben, dessen zeitliche Befristung der Vorerbschaft unberücksichtigt bleibt.
Graphisch lässt sich die Systematik des § 6 ErbStG wie folgt darstellen: