Rz. 28
Der Vorerbe ist gem. § 1922 BGB Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers und erwirbt daher gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG durch Erbanfall. § 6 Abs. 1 ErbStG stellt dieses zivilrechtlich selbstverständliche Ergebnis nochmals für die Erbschaftsteuer klar. Das Erbschaftsteuergesetz in der Fassung vor 1925 behandelte den nicht befreiten Vorerben noch als Nießbraucher. Eine Unterscheidung nach den Beschränkungen der Vorerbschaft findet heute nicht mehr statt, so dass der Vorerbe immer den vollen Wert des Erbanfalls zu versteuern hat. Soweit der Vorerbe Beschränkungen unterliegt, können diese weder als Abschlag bei der Bewertung noch als Schuldposten bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage berücksichtigt werden. Vielmehr handelt es sich hierbei um persönliche Verhältnisse des Vorerben, die nach § 12 Abs. 1 ErbStG i. V. m. § 9 Abs. 2, Abs. 3 BewG unbeachtlich sind. Auch eine Umdeutung der Vorerbenstellung in die eines Nießbrauchers ist nicht möglich, selbst dann, wenn die Beschränkungen, denen der Vorerbe unterliegt, ihn bei wirtschaftlicher Betrachtung zum Nießbraucher "degradieren". Vielmehr knüpft das Erbschaftsteuergesetz hinsichtlich der Besteuerungsfolgen an die zivilrechtliche Rechtsfigur des Vorerben, die einer wirtschaftlichen Betrachtung im Ergebnis nicht zugänglich ist, an (RFH vom 20.01.1931, RStBl 1931, 241; FG München vom 24.11.1999, EFG 2000, 279). Die Vollversteuerung gilt des Weiteren unabhängig davon, ob der Nacherbfall durch Tod des Vorerben oder auf Grund eines anderen Ereignisses, bspw. der Wiederverheiratung des Vorerben, eintritt. Zwar gilt der Erbanfall in letzterem Fall gem. § 6 Abs. 3 Satz 1 ErbStG als auflösend bedingt, durch die Regelung in § 6 Abs. 3 Satz 2 ErbStG, wonach die vom Vorerben gezahlte Steuer dem Nacherben abzüglich der tatsächlichen Bereicherung des Vorerben angerechnet wird, wird jedoch verhindert, dass es beim Vorerben gem. § 5 Abs. 2 BewG zu einer Steuerrückerstattung kommt. Die auf dem Vorerbfall anfallende Steuer ist daher für den Vorerben definitiv, egal wie seine Vorerbenstellung ausgestaltet ist und was der Anlass für den Nacherbfall ist (s. Kobor in F/P/W, § 6 Rn. 37).
Rz. 29
§ 5 Abs. 2 BewG ist aber anwendbar, wenn der Vorerbe verstirbt, ohne dass dadurch der Nacherbfall eintritt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn mehrerer Vorerben berufen sind und die Nacherbfolge erst durch den Tod des letzten Vorerben ausgelöst wird. Dann erwerben die Erben des Vorerben als Gesamtrechtsnachfolger des Vorerben dessen Vermögen, in dem sich auch das Vorerbschaftsvermögen befindet und haben dieses im Umfang des Vorerbschaftsvermögens nochmals gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG zu versteuern, ohne auf § 20 Abs. 4 ErbStG zurückgreifen zu können. Tritt später der Nacherbfall ein, so greift nunmehr § 5 Abs. 2 BewG mit der Folge, dass der auflösend bedingte Erwerb der Vorerbschaft beendet wird und die von den Erben des Vorerben auf das Vorerbschaftsvermögen angefallene Steuer erstattet wird. Die Vorschrift des § 6 Abs. 3 Satz 2 ErbStG ist nur auf die im Verhältnis zwischen Vor- und Nacherbe entstehende Steuer anwendbar, nicht aber auf die Steuer des Zwischenerwerbers (Erbe des Vorerben; s. Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 13; Hannes/Holtz in M/H/H, § 6 Rn. 6, 25).
Rz. 30
Mit der Besteuerung des Vorerben korrespondiert die Steuerfreiheit des durch den Vorerbfall entstandenen Anwartschaftsrechts des Nacherben. Dieses stellt lediglich die Vorstufe zum endgültigen Erbanfall dar, der erst im Zeitpunkt des Nacherbfalls eintritt (§ 12 Abs. 1 ErbStG i. V. m. § 4 BewG und § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ErbStG).
Rz. 31
Der Vorerbe kann die Steuerschuld gem. § 20 Abs. 4 ErbStG aus den Mitteln der Vorerbschaft begleichen. Sie ist eine außerordentliche Last i. S. d. § 2126 BGB und schmälert den später auf den Nacherben übergehenden Nachlass.
Rz. 31a
Der BFH hat mit Urteil vom 13.04.2016 (BStBl II 2016, 746) – entgegen der bisherigen Rspr. (s. RFH vom 07.11.1935, RStBl 1935, 1509; FG Hamburg vom 18.01.1968, EFG 1968, 362) und h. M. in der Literatur (s. Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 135; Rn. 23 bis 50 EL; Löcherbach in V/S/W, § 6 Rn. 18) – für den Fall, dass der Nacherbfall eintritt, bevor die Erbschaftsteuer gegen den Vorerben festgesetzt wurde, entschieden, dass der Nacherbe neben den Erben des Vorerben als Gesamtschuldner für die Erbschaftsteuer aus dem Vorerbfall haftet. Im Rahmen der Ausübung des Auswahlermessens hat die Finanzbehörde im Regelfall die Steuer aus der Vorerbschaft gegen den Nacherben (und nicht die Erben des Vorerben) festzusetzen. Dieses – in der Sache zutreffende – Ergebnis leitet der BFH aus den zivilrechtlichen Regelungen der §§ 1967, 2144, 2145 BGB ab, was auch mit der Regelung des § 20 Abs. 4 ErbStG korreliert, aus der sich ergibt, dass die Erbschaftsteuer gegenüber demjenigen festgesetzt werden soll, bei dem sich das Sondervermögen aus der Vorerbschaft befindet (w. Einzelheiten vgl. Jandl/Kraus, DStR 2016, 2265 sowie Loose, ErbR 2021, 674). Hinzuweisen ist aus zivilrechtliche...