Rz. 46
Zwar ist steuerlich der Nacherbe Erbe des Vorerben (§ 6 Abs. 1 Satz 1 ErbStG), was zur Folge hat, dass es sich – unabhängig von der Möglichkeit des § 6 Abs. 1 Satz 2 ErbStG – um einen Erwerb vom Vorerben handelt, auf Antrag ist aber "der Versteuerung das Verhältnis des Nacherben zum Erblassers zugrunde zu legen" (§ 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG). Was darunter im Einzelnen zu verstehen ist, ist streitig.
Rz. 47
Die enge Auslegungsansicht (s. Hannes/Holtz in M/H/H, § 6 Rn. 16; Weinmann in M/W, § 6 Rn. 17; Mohr in Tiedtke, § 6 Rn. 21; Esskandari in S/L, § 6 Rn. 52; Uricher in D/H/R, § 6 Rn. 29; wohl auch Engel in W/J, § 6 Rn. 25 und Reich in vO/L, § 6 Rn. 34), die sich auf die frühere Rechtsprechung des RFH beruft (s. RFH vom 08.07.1937, RStBl 1937, 974), will der Versteuerung lediglich die Merkmale zwischen Erblasser und Nacherben zugrunde legen, die sich aus den Tarifvorschriften (Steuerklasse, § 15 ErbStG; sachliche und persönliche Freibeträge, §§ 13, 16, 17 ErbStG und Steuersatz § 19 ErbStG) ergeben. Hingegen geht die weite Auslegungsansicht (s. Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 93; Geck in K/E, § 6 Rn. 27; Löcherbach in V/S/W, § 6 Rn. 21; Kobor in F/P/W, § 6 Rn. 30; Noll, DStR 2004, 357, 360) davon aus, dass alle Besteuerungsmerkmale zwischen Erblasser und Nacherbe heranzuziehen sind.
Rz. 48
Der BFH hat sich in seiner Entscheidung vom 30.06.1976 (BFHE 119, 492) im Hinblick auf § 7 Abs. 2 Satz 2 ErbStG 1959 (wortgleich mit § 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG 1974) zunächst für die weite Auslegung entschieden und sich damit von der Position des RFH abgewandt. In einem obiter dictum hat er allerdings angemerkt, dass der Gesetzgeber diese Frage in § 6 Abs. 2 Satz 3 ff. ErbStG 1974 in einem anderen Sinne entschieden habe. Dementgegen geht der BFH in seinen neueren Entscheidungen zu dieser Frage vom 02.12.1998 (BStBl II 1999, 235; ebenso BFH vom 28.02.2007, BFH/NV 2007, 919 und vom 03.11.2010, BStBl II 2011, 123) nunmehr unter Berücksichtigung der Sätze 3 ff. des § 6 Abs. 2 ErbStG von der engen Auslegung aus (zur historischen Entwicklung des Meinungsstands s. Jülicher, ZEV 2003, 350, 351). Die Frage der Zusammenrechnung mehrerer Erwerbe nach § 14 ErbStG für den Fall, dass der Vorerbe mit Rücksicht auf die angeordnete Nacherbschaft Vermögen auf den Nacherben überträgt und der Vorerbe innerhalb von zehn Jahren vom Nacherben beerbt wird, hat der BFH (Urteil vom 03.11.2010, BStBl II 2011, 123) trotz der Stellung eines Antrags nach § 7 Abs. 2 Satz 1 ErbStG positiv beantwortet. Die Antragstellung war daher unbeachtlich. So sei die sich anderenfalls ergebende Möglichkeit, die Steuerbelastung allein durch die zeitliche Verteilung der Erwerbe innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren zu vermindern, nicht mit Sinn und Zweck des § 14 Abs. 1 ErbStG vereinbar. An dieser Begründung des BFH zeigt sich, dass sich die Anwendung der engen Auslegungsansicht im entschiedenen Fall aus dem spezifischen Sinn und Zweck des § 14 ErbStG ergibt. Allerdings wird man davon ausgehen müssen, dass der BFH diese Sichtweise auch auf sonstige Fälle (§§ 13a Abs. 1 Sätze 2 und 3; 28a Abs. 4 Nr. 3 ErbStG) der Zusammenrechnung mehrerer Erwerbe von derselben Person einnehmen wird.
Rz. 49
Die enge Auslegungsansicht ist meines Erachtens zumindest zweifelhaft. So ist bereits unter systematischer Betrachtung des § 6 Abs. 2 ErbStG festzustellen, dass dessen Sätze 3 bis 5 einen Spezialfall zu Satz 2 regeln, nämlich das Zusammentreffen der Vererbung von vorerbschafts- und vorerbschaftsfreiem Vermögen. In diesem (Spezial-)Fall sind die Sätze 3 bis 5 einschlägig und regeln die Behandlung der Tarifvorschriften. Mangels Spezialregelungen hinsichtlich der sonstigen Besteuerungsmerkmale muss es aber im Übrigen bei der Regelung des § 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG verbleiben. Auch der Wortlaut des Satzes 2, der von "Versteuerung" spricht, zeigt, dass hier mehr als Tarifvorschriften gemeint sind. Die Sätze 3 bis 5 stellen dem hingegen konkret (und ausschließlich) auf die Tarifvorschriften ab. Hätte der Gesetzgeber auch in Satz 2 nur die Tarifvorschriften erfassen wollen, hätte er einen engeren Wortlaut gewählt. Dadurch dass er in Satz 2 jedoch den weiten Begriff "Versteuerung" im ErbStG 1974 beibehielt, in den Sätzen 3 bis 5 aber nur Konkretisierungen für die Tarifvorschriften vorgenommen hat, zeigt sich, dass eine bewusste Differenzierung stattfand, die eine unterschiedliche Behandlung erfordert (ebenso Löcherbach in V/S/W, § 6 Rn. 21; Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 93; Geck in K/E, § 6 Rn. 28, 31, 32; Noll, DStR 2004, 257, 260). Hinzu kommt, dass durch die Möglichkeit von § 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG ein Systembruch vermieden wird und dem Willen des Erblassers, dem Nacherben den Nachlass von ihm und nicht vom Vorerben zukommen zu lassen, Rechnung getragen wird (s. Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 93; Noll, DStR 2004, 257, 260). Eine Stellungnahme der Finanzverwaltung zu dieser Frage ist weder R 13 ErbStR 2003 noch R E 6 ErbStR 2011 noch R E 6 ErbStR oder sonstigen Äußerungen zu entnehmen. Es liegt ...