Rz. 62
Tritt der Nacherbfall nicht durch den Tod des Vorerben ein, sondern durch ein anderes Ereignis, bspw. die Wiederverheiratung des Vorerben, die Volljährigkeit des Nacherben oder seine Heirat, ist die Vorerbfolge als auflösend bedingter Erwerb und die Nacherbfolge als aufschiebend bedingter Erwerb zu behandeln (§ 6 Abs. 3 Satz 1 ErbStG). Damit kehrt das Erbschaftsteuergesetz in diesen Fällen zur zivilrechtlichen und den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Konzeption der Vor- und Nacherbfolge zurück. Folge hiervon ist, dass der ansonsten in § 6 ErbStG konsequent durchgehaltene Grundsatz der Vollbesteuerung des Vorerben durchbrochen wird, allerdings ohne dass dies dem Vorerben zu Gute käme (zur Kritik hierzu s. Rn. 27). Für diesen bleibt es bei der durchgeführten Besteuerung als Vollerbe, da der auflösenden Bedingung der Vorerbschaft nicht gem. § 5 Abs. 2 BewG Rechnung getragen wird, was beim Vorerben eine Steuererstattung zur Folge hätte, sondern dadurch, dass gem. § 6 Abs. 3 Satz 2 ErbStG die Steuer des Vorerben bei der Steuerfestsetzung gegen den Nacherben von Amts wegen angerechnet wird, allerdings nur soweit, wie der Vorerbe aus der Vorerbschaft nicht tatsächlich bereichert ist. Aus § 6 Abs. 3 ErbStG ergibt sich daher, dass
- die gegen den Vorerben festgesetzte Steuer für ihn (trotz des auflösend bedingten Erwerbs) definitiv ist,
- der Nacherbe hingegen die Steuer des Vorerben (abzüglich dessen tatsächlicher Bereicherung) auf seine Steuerschuld anrechnen kann.
Rz. 63
Die Anrechnung der Steuer des Vorerben erfolgt nur bis zur Höhe der gegen den Nacherben festzusetzenden Steuer. Eine Steuererstattung für den Fall, dass die Steuer des Vorerben die des Nacherben übersteigt (in der Praxis der Regelfall), ist im Gesetz nicht vorgesehen (s. BFH vom 10.05.1972, BStBl II 1972, 765; FG Freiburg vom 13.02.1964, EFG 1964, 541; Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 118, m. w. N.). In Höhe einer Mehrzahlung des Vorerben entsteht damit eine (gesetzlich gewollte) Doppelbelastung (ebenso Löcherbach in V/S/W, § 6 Rn. 36; Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 118). Ist Vorerbe eine gemeinnützige juristische Person, die gem. § 13 Abs. 1 Nr. 16 ErbStG von der Erbschaftsteuer befreit ist, so geht die Anrechnungsmöglichkeit ins Leere. Gleiches gilt für den Fall gemeinnütziger Zweckzuwendungen bei Anordnung der Testamentsvollstreckung über die Vorerbschaft, § 13 Abs. 1 Nr. 17 ErbStG (s. Gottschalk in T/G/J/G, § 6 Rn. 129).
Rz. 64
Bereits denklogisch – es liegt kein weiterer Erbfall vor – kann das Nacherbschaftsvermögen, das durch Bedingungseintritt dem Nacherben anfällt, nur vom Erblasser stammen. Die Versteuerung richtet sich daher zwingend nach dem Verhältnis Erblasser–Nacherbe. Die Steuer entsteht mit dem Eintritt des Nacherbfalls (§ 9 Abs. 1 Nr. 1h ErbStG), der auch den Bewertungszeitpunkt darstellt (§ 11 ErbStG). Ein Wahlrecht wie in § 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG besteht nicht. Auch der Fall, dass der Nacherbe zugleich den Erblasser und den Vorerben beerbt, ist nicht denkbar. Eine Regelung wie in § 6 Abs. 2 Satz 3 bis 5 ErbStG enthält § 6 Abs. 3 ErbStG daher nicht. Sofern der Vorerbe den Nacherben im Zeitpunkt der Nacherbschaft noch zusätzlich aus eigenem Vermögen beschenkt, liegen zwei völlig voneinander getrennte Erwerbsvorgänge vor. Eine Zusammenrechnung findet nicht statt, es können zwei Freibeträge geltend gemacht werden. Gleiches gilt bezüglich § 14 ErbStG. Auch hier findet keine Zusammenrechnung statt, wenn innerhalb des Zehnjahreszeitraums eine "Vorschenkung" des Vorerben an den Nacherben stattgefunden hat (für § 6 Abs. 2 ErbStG aber s. Rn. 57 Beispiel 2). Ebenfalls scheidet die Anwendung von § 27 ErbStG aus, da ein mehrfacher Erwerb bei Fallgestaltungen des § 6 Abs. 3 ErbStG gerade nicht gegeben ist.