Dipl.-Finanzwirt Jörg Ramb
1 Einführung
Rz. 1
Die unter § 1 ErbStG genannten Vorgänge unterliegen der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Als deren steuerpflichtiger Erwerb ist nach § 10 Abs. 1 Satz 1 und 2 ErbStG die Bereicherung zu ermitteln, sofern sie nicht steuerfrei ist. Die einzelnen Vermögenswerte (wirtschaftliche Einheiten) sind dabei nach § 12 ErbStG i. V. m. BewG mit ihren Bedarfswerten anzusetzen. Für diese vorzunehmende Wertermittlung ist nach § 11 ErbStG (Bewertungszeitpunkt) der Zeitpunkt der Entstehung der Steuer maßgeblich, soweit das Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz nichts davon Abweichendes bestimmt (Stichtagsprinzip; noch genauer: Zeitpunktsprinzip). Der Entstehungszeitpunkt (Besteuerungszeitpunkt) der Erbschaft- und Schenkungsteuer wird durch § 9 ErbStG festgelegt. Dies ist z. B. bei Erwerben von Todes wegen der Tod des Erblassers (s. § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG). Die Kernaussage des § 11 ErbStG wird in einigen Vorschriften wiederholt und damit (klarstellend) bestätigt, so z. B. in § 12 Abs. 3 und Abs. 5 Satz 1 ErbStG. Eine von § 11 ErbStG abweichende Bestimmung enthält § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG. Die in die nach § 14 ErbStG vorzunehmende Zusammenrechnung einzubeziehenden Vorerwerbe sind mit ihrem "früheren" Wert anzusetzen.
Rz. 2
Maßgebend ist somit allein die Bereicherung am Stichtag, die nach den tatsächlichen Verhältnissen und grds. auch Wertverhältnissen zu diesem Stichtag zu ermitteln ist. Spätere – bereits in der Vermögenssphäre des Erwerbers – eintretende Wertveränderungen können demnach nicht berücksichtigt werden. Dies bedeutet z. B., dass an der Börse notierte Aktien (zwingend) mit ihrem zum Todestag des Erblassers geltenden Kurswert anzusetzen sind, auch wenn dieser nach dem maßgebenden Stichtag erheblich sinken sollte; die Regelung des § 11 ErbStG ist eindeutig. Wertaufhellende Erkenntnisse sind jedoch u. E. zu beachten.
2 Einzelfälle
Rz. 3
Der BFH führt in seinem Urteil vom 22.09.1999 (BFH/NV 2000, 320) u. a. aus, dass Wertveränderungen nach dem Besteuerungs- und Bewertungsstichtag nicht zu berücksichtigen seien. Insoweit käme auch der zeitlichen Differenz zwischen Zufluss und Stichtag keine grundsätzliche Bedeutung zu. Die strikte Beachtung des Stichtagsprinzips gilt auch für den Fall, in dem das Verfügungsrecht des Erben (z. B. infolge Testamentsvollstreckung) beschränkt ist; der Gesetzgeber hat in Kenntnis dieser Möglichkeit keine – von § 11 ErbStG – abweichende Regelung vorgesehen.
Rz. 4
Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3. Alt. ErbStG ist der vom Pflichtteilsberechtigten geltend gemachte Pflichtteilsanspruch als Erwerb von Todes wegen zu erfassen. Die Erbschaftsteuer entsteht in diesem Fall (erst) mit dem Zeitpunkt seiner Geltendmachung (s. § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG). Die Höhe des Pflichtteilsanspruchs ist alleine nach BGB zu bestimmen; nach § 2311 BGB ist der Wert des Nachlasses zum Todestag die maßgebende Berechnungsgrundlage. Weichen Zeitpunkt der Geltendmachung und Todestag voneinander ab, was i. d. R. der Fall sein dürfte, stellt sich das Problem, wie § 11 ErbStG in diesem Fall auszulegen ist. Danach wäre für die Wertermittlung des Pflichtteilsanspruchs (Kapitalforderung) der Zeitpunkt der Steuerentstehung, also der Zeitpunkt der Geltendmachung, maßgebend, was aber mit § 2311 BGB kollidiert. U.E. ist § 2311 BGB vorrangig. § 11 ErbStG steht dem nicht entgegen. Der Zeitpunkt der Steuerentstehung ist immer dann maßgebend, wenn das ErbStG nichts anderes bestimmt. Da § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3. Alt. ErbStG sich auf die für den Pflichtteil maßgeblichen Bestimmungen der §§ 2303ff. BGB bezieht, wird insoweit § 11 ErbStG durch § 2311 BGB verdrängt.
Rz. 5
Wird nach dem Stichtag eine Umwandlung einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft oder umgekehrt mit steuerlicher Rückwirkung auf einen Übertragungszeitpunkt beschlossen, der vor dem Zeitpunkt der Steuerentstehung liegt, berührt diese ertragsteuerliche Rückwirkung nicht die nach zivilrechtlichen Grundsätzen zu entscheidende Frage, welches Vermögen zum Nachlass eines Erblassers gehörte bzw. was Gegenstand einer Schenkung war. Sie ist ausschließlich nach den tatsächlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der Steuerentstehung zu beurteilen (s. R E 11 ErbStR; bestätigend BFH vom 04.07.1984, BStBl II 1984, 772). Auch Rückdatierungen in Schenkungsverträgen sind unbeachtlich (s. BFH vom 24.07.1963, BStBl III 1963, 442).
Rz. 6
Zum aktuellen Diskussionsstand, ob Billigkeitsmaßnahmen in Einzelfällen (z. B. gravierende Wertverluste nach dem Bewertungszeitpunkt) getroffen werden können und sollen, s. Weinmann in M/W, § 11 Rn. 12.