Leitsatz (amtlich)
Kommt das FG zu dem Ergebnis, daß die gegen einen Beschluß eingelegte Beschwerde begründet ist, hilft es aber der Beschwerde nicht ab, weil es den Beschluß aus neuen (ausgewechselten oder die bisherige Begründung wesentlich ergänzenden) Gründen, die es dem Nichtabhilfebeschluß beifügt, weiterhin für rechtmäßig hält, so kommt eine Aufhebung des Beschlusses und Zurückverweisung an das FG mit der Begründung, daß der (nichtanfechtbare) Nichtabhilfebeschluß eine neue Begründung enthält, nur in Betracht, wenn dem angefochtenen Beschluß schwerwiegende Mängel anhaften (Fortführung und Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Senats, BFHE 119, 122 und 120, 460).
Normenkette
FGO § 130 Abs. 1, § 119
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) führte beim Hessischen FG einen Rechtsstreit gegen den Antragsgegner und Beschwerdegegner (FA) wegen einheitlicher Gewinnfeststellung 1968. Am 28. August 1973 erließ das FA einen Änderungsbescheid mit der Maßgabe, daß er an die Stelle des ursprünglichen Bescheides und der Einspruchsentscheidung trete. Nachdem daraufhin die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hatten, legte das FG mit Beschluß vom 15. November 1973 die Kosten des Verfahrens gemäß § 138 Abs. 2 Satz 3 i. V. mit § 137 FGO der Antragstellerin auf. Das FA setzte mit einem nach dem Absendervermerk am 21. Mai 1974 zur Post gegebenen Gebührenfestsetzungsbescheid Gebühren gemäß § 256 AO fest. Mit Schreiben vom 10. Juni 1974 (beim FA eingegangen am selben Tage) beantragte die Antragstellerin, den Gebührenfestsetzungsbescheid aufzuheben, weil es an einer Kostenentscheidung fehle. Die Kostenentscheidung der Einspruchsentscheidung sei durch den Änderungsbescheid hinfällig geworden.
Das FA wies den Antrag zurück. Die Antragstellerin rief daraufhin gemäß § 257 Abs. 2 AO die Entscheidung des FG an.
Das FG wies die Anrufung durch Beschluß vom 2. Oktober 1974 mit der Begründung zurück, daß die Antragstellerin ihre Erinnerung gemäß § 257 Abs. 1 AO verspätet eingelegt habe. Der am 21. Mai 1974 zur Post gegebene Gebührenfestsetzungsbescheid gelte als am 24. Mai 1974 bekanntgegeben. Das als Erinnerung aufzufassende Schreiben der Antragstellerin hätte spätestens am 7. Juni 1974 beim FA eingehen müssen.
Gegen diesen Beschluß hat die Antragstellerin fristgerecht Beschwerde eingelegt und unter Vorlage des Gebührenfestsetzungsbescheides vom 21. Mai 1974 und des dazugehörigen Fensterbriefumschlages geltend gemacht, daß ihr der Bescheid erst am 25. Mai 1974 zugegangen sei. Der Gebührenfestsetzungsbescheid trägt den Eingangsstempel vom 25. Mai 1974, der Briefumschlag den Freistempelabdruck "Finanzamt H 24. Mai 1974". Der Bescheid gelte, so meint die Antragstellerin, damit als am 27. Mai 1974 bekanntgegeben. Die Frist für die Einlegung der Erinnerung sei also am 10. Juni 1974 abgelaufen. An diesem Tage habe sie die Erinnerung unstreitig eingelegt.
Das FG hat der Beschwerde mit Beschluß vom 14. Januar 1975 nicht abgeholfen. In der Begründung seines Beschlusses hat das FG zunächst ausgeführt, es könne nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die Erinnerung der Antragstellerin gegen den Gebührenfestsetzungsbescheid verspätet eingelegt worden sei. Das FA treffe gemäß § 17 Abs. 2 2. Halbsatz VwZG die Nachweislast für den Zugang. Einen solchen Beweis habe es nicht erbracht. Der Absendevermerk auf der Urschrift des Gebührenfestsetzungsbescheides "zur Post am 21. Mai 1974" habe im Streitfall keine urkundliche Beweiskraft, da nach dem Datum des vorgelegten Briefumschlags der Bescheid tatsächlich erst am 24. Mai 1974 bei der Postanstalt abgeliefert worden sei. Der Umstand, daß die Identität des Umschlags nicht nachweisbar sei, gehe nicht zu Lasten der Antragstellerin. Es sei Sache des FA, durch geeignete Maßnahmen einem möglichen Mißbrauch vorzubeugen. Bei einem Widerspruch zwischen dem Datum des Absendevermerks und dem des Poststempels sei letzteres Datum maßgeblich.
Das FG hat danach zur Sache Stellung genommen und im Nichtabhilfebeschluß ausgeführt, daß die Beschwerde unbegründet sei. Unter Bezugnahme auf den Beschluß des Großen Senats des BFH vom 18. Juli 1967 GrS 5 - 7/66 (BFHE 90, 150, BStBl II 1968, 56), ferner auf einen Aufsatz von Woerner (BB 1974, 1619) und schließlich auf zwei BFH-Entscheidungen (Beschlüsse vom 5. Dezember 1972 VIII R 73/71, BFHE 108, 87, BStBl II 1973, 262, und vom 16. Juli 1974 VII B 101/72 - nv -) hat es die Auffassung vertreten, aus § 139 Abs. 1 FGO ergebe sich, daß eine Entscheidung über die Kosten des Verfahrens die Kosten des Vorverfahrens mitumfasse, auch wenn das Gericht nur von den "Kosten des Rechtsstreits" spreche.
Im Beschwerdeverfahren vor dem BFH hat die Antragstellerin vorgetragen, daß der Änderungsbescheid vom 28. August 1973 die Einspruchsentscheidung vollständig ersetzt habe und daß die darin enthaltene Kostenentscheidung hinfällig geworden sei. Zur Entscheidung über die Kosten des Einspruchs sei nach § 254 AO ausschließlich das FA befugt. Nur das FA hätte ihr Kosten nach § 252 AO auferlegen können. Das sei nicht geschehen. Aus § 139 Abs. 1 FGO ergebe sich nicht, daß eine Entscheidung über die Kosten des Verfahrens auch die Kosten des Vorverfahrens erfasse. Andernfalls würde das Gericht in die Kompetenz der Verwaltung eingreifen.
Das FA ist der Auffassung, daß die Erinnerung verspätet eingelegt worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Das FG hat den Nichtabhilfebeschluß mit einer neuen Begründung versehen. Das lag, wie den Akten des FG B II 25/74 zu entnehmen ist, darin begründet, daß die Antragstellerin vor der Zurückweisung ihrer Anrufung durch den angefochtenen Beschluß zu dem Vorbringen des FA, die Erinnerung vom 10. Juni 1974 sei wegen Fristversäumnis verspätet eingelegt worden, nicht Stellung genommen hatte. Das hat sie erst mit der Beschwerdebegründung nachgeholt. Das FG hat im Rahmen der Prüfung, ob die Beschwerde begründet ist und ihr abzuhelfen sei, zu Recht die von der Antragstellerin vorgelegten neuen Beweismittel berücksichtigt (vgl. Thomas-Putzo, Zivilprozeßordnung, 9. Aufl., § 571 Anm. 1 c; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 130 FGO Anm. 1; v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 130 FGO Anm. 2; Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 130 Anm. 3) und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Erinnerung fristgerecht eingelegt worden war. Erst danach konnte sich das FG mit der eigentlichen Sachfrage der Anrufung auseinandersetzen, ob die zuungunsten der Antragstellerin ergangene isolierte Kostenentscheidung eine ausreichende rechtliche Grundlage für den Gebührenfestsetzungsbescheid des FA darstellt. Da das FG diese Frage bejahte, hat es, wenn auch mit neuer Begründung, im Ergebnis daran festgehalten, daß die Beschwerde nicht begründet ist, und die Sache mit Beschluß dem BFH vorgelegt.
Die Rechtsfrage, wie zu verfahren ist, wenn die Beschwerde gegen einen in bestimmter Weise begründeten Beschluß an sich begründet ist, das FG aber gleichwohl die angefochtene Entscheidung mit neuer Begründung für rechtmäßig hält und deshalb der Beschwerde nicht abhilft, ist umstritten. Der Senat hat in seinem Beschluß vom 30. März 1976 VII B 105/75 (BFHE 119, 122, BStBl II 1976, 595), der sich eingehend mit den verschiedenen Meinungen auseinandergesetzt hat, in einem solchen Falle den angefochtenen Beschluß aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen. Maßgebend dafür war, daß das FG einen Aussetzungsantrag mit der Begründung abgelehnt hatte, die Antragstellerin habe die den Antrag begründenden Tatsachen nicht dargelegt und nicht glaubhaft gemacht sowie auch die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen nicht vorgelegt. Tatsächlich hatte die Antragstellerin aber diesen Erfordernissen bereits Genüge getan. Da das FG sich erst im Nichtabhilfebeschluß mit dem schriftsätzlichen Vorbringen der Antragstellerin auseinandergesetzt hatte, hat der Senat in der Nichtberücksichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegenden Vortrags eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gesehen, die das FG im Rahmen der Prüfung gemäß § 130 FGO hätte veranlassen müssen, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und erneut in der Sache zu entscheiden.
In einem weiteren Beschluß vom 30. November 1976 VII B 1/75 (BFHE 120, 460, BStBl II 1977, 164) hat der Senat erkannt, daß es bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei der einem Nichtabhilfebeschluß beigefügten Begründung um eine (unzulässige) Auswechslung bzw. wesentliche Ergänzung der bisherigen Begründung oder um eine die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides nicht betreffende, unwesentliche Ergänzung handle, auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. Er ist in jenem Fall zu dem Ergebnis gekommen, daß die dem Abhilfebeschluß beigefügte Begründung nur eine unwesentliche Ergänzung der bisherigen Begründung darstellte, die die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses nicht tangierte.
Der Streitfall gleicht keinem der beiden vorerwähnten Fälle. Im Gegensatz zu dem dem Beschluß VII B 1/75 zugrunde liegenden Sachverhalt enthält der Nichtabhilfebeschluß des FG aus den bereits dargelegten Gründen eine vollständig neue Begründung. Das zwingt allerdings nicht dazu, den angefochtenen Beschluß, wie in der Streitsache VII B 105/75, aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Der dem letzteren Beschluß vorangestellte, allgemeingehaltene Rechtssatz kann nicht für jeden Fall einer neuen, dem Nichtabhilfebeschluß beigefügten Begründung Geltung beanspruchen. Es kommt vielmehr auf den Einzelfall an. Dies wird gerade im Streitfall besonders deutlich, in dem das FG nach dem im Zeitpunkt seiner Entscheidung vorliegenden Prozeßmaterial nur zur Frage der Zulässigkeit der Erinnerung Stellung zu nehmen brauchte und kein Anlaß bestand, auf die eigentliche Sachfrage einzugehen. Wenn aber das FG verpflichtet war, anhand der mit der Beschwerde neu vorgelegten Beweismittel zu prüfen, ob die Erinnerung entgegen den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses doch fristgerecht eingelegt worden war, dann reichte das für den Fall der Bejahung dieser Frage weder dazu aus, der Beschwerde abzuhelfen, noch auch dazu, die Sache ohne weitere Prüfung der sachlichen Streitfrage dem BFH vorzulegen. Das Gericht war vielmehr gemäß § 130 Abs. 1 FGO verpflichtet zu prüfen, ob die Beschwerde auch materiell begründet war. Denn wenn es zu dem Ergebnis gekommen wäre, daß der Gebührenfestsetzungsbescheid zu Unrecht ergangen sei, hätte es der Beschwerde abhelfen müssen. Für einen Fall der vorliegenden Art wird die im Beschluß VII B 105/75 dargelegte Auffassung von Hamelbeck (Deutsche Rechts-Zeitschrift 1950 S. 296) und Thomas-Putzo (a. a. O.), daß das Erstgericht, da es der Beschwerde nicht abhelfe, nur die Beschwerde unter Angabe neuer Gründe vorlegen könne, den gesetzlichen Erfordernissen des § 130 Abs. 1 FGO eher gerecht.
Eine Aufhebung des angefochtenen Beschlusses mit der Begründung, daß der Nichtabhilfebeschluß eine ausgewechselte Begründung bzw. eine wesentliche, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses betreffende Ergänzung enthält, kommt nur dann in Betracht, wenn der angefochtene Beschluß schwerwiegende Mängel aufweist. So lagen die Dinge im Streitfall VII B 105/75, in dem das Fg durch den angefochtenen Beschluß den auf Art. 103 Abs. 1 GG beruhenden Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör verletzt hatte. Ein schwerwiegender Mangel der vorstehend erwähnten Art wird in der Regel auch dann angenommen werden müssen, wenn einer der absoluten Revisionsgründe des § 119 FGO vorliegt (zu denen im übrigen auch die Versagung des rechtlichen Gehörs gehört). Im Streitfall liegen keine Mängel vor. Das FG ist vielmehr der ihm gemäß § 130 Abs. 1 FGO obliegenden Verpflichtung nachgekommen, nach Bejahung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Erinnerung weiter zu prüfen, ob die Anrufung gemäß § 257 Abs. 2 AO materiell begründet war, und hat die Gründe für seine Auffassung, daß der Gebührenfestsetzungsbescheid rechtmäßig sei, im Nichtabhilfebeschluß näher ausgeführt. Für eine Aufhebung des angefochtenen Beschlusses vom 2. Oktober 1974 aus dem Grunde, daß der Nichtabhilfebeschluß eine neue Begründung enthält, besteht nach allem kein Grund.
Das FG hat zu Recht entschieden, daß die Erinnerung der Antragstellerin fristgerecht eingelegt worden ist. Der Senat schließt sich den dahin gehenden überzeugenden Ausführungen des FG an.
Die Beschwerde ist aber deshalb unbegründet, weil die zuungunsten der Antragstellerin ergangene isolierte Kostenentscheidung des FG vom 15. November 1973 eine rechtlich nicht zu beanstandende Grundlage für den vom FA gemäß § 256 AO erlassenen Gebührenfestsetzungsbescheid darstellt. Im Streitfall haben die Beteiligten den Rechtsstreit während des finanzgerichtlichen Verfahrens in der Hauptsache für erledigt erklärt. Das FG hatte danach nur noch durch Beschluß über die Kosten zu entscheiden (§ 143 FGO). Kosten sind nach § 139 Abs. 1 FGO Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens. Zu diesen Kosten gehören, wie der Große Senat des BFH mit Beschluß GrS 5 - 7/66 entschieden hat, auch die Kosten im Sinne des § 250 AO, d. h. die an das FA zu zahlenden Gebühren. Diese Auffassung des Großen Senats entspricht der herrschenden Meinung (vgl. Tipke-Kruse, a. a. O., § 143 FGO Anm. 1 und die dort angeführte Rechtsprechung, insbesondere den BFH-Beschluß vom 4. Dezember 1974 I B 68/74, BFHE 114, 459, BStBl II 1975, 336). Im vorliegenden Fall wird die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung besonders deutlich. Denn der Änderungsbescheid vom 28. August 1973 ist mit der Maßgabe ergangen, daß er an die Stelle des ursprünglichen Bescheids vom 5. November 1970 und der Einspruchsentscheidung tritt. Damit ist auch die in der Einspruchsentscheidung enthaltene Kostenentscheidung hinfällig geworden. Nach den im finanzgerichtlichen Verfahren abgegebenen Erledigungserklärungen der Beteiligten mußte sich deshalb die vom FG gemäß §§ 143, 139, 138, 137 FGO getroffene Kostenentscheidung notwendigerweise auch auf das Vorverfahren erstrecken.
Fundstellen
Haufe-Index 72052 |
BStBl II 1977, 331 |
BFHE 1977, 167 |