Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung eines Bescheids mit Zustimmung des Steuerpflichtigen
Leitsatz (NV)
Es ist nicht ernstlich zweifelhaft, dass das Finanzamt einen Steuerbescheid auch dann mit Zustimmung des Steuerpflichtigen zu dessen Ungunsten ändern darf, wenn die Voraussetzungen für eine Änderung wegen "neuer Tatsachen" nicht vorliegen.
Normenkette
AO 1977 § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. a, § 173 Abs. 1 Nr. 1; FGO § 69 Abs. 2-3
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob gegenüber der Antragstellerin erlassene Steuerbescheide nichtig sind.
Die Antragstellerin, eine GmbH, wurde für die Streitjahre (1992 bis 1994) zunächst nach Maßgabe der von ihr abgegebenen Steuererklärungen veranlagt. Die Steuerbescheide ergingen nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Im Anschluss an eine später durchgeführte Betriebsprüfung, bei der der Prüfer die von der Antragstellerin gezahlten Geschäftsführergehälter als überhöht beanstandet hatte, änderte der Antragsgegner (das Finanzamt --FA--) unter Berufung auf § 173 der Abgabenordnung (AO 1977) diese Bescheide zum Nachteil der Antragstellerin.
Die Antragstellerin legte gegen die Änderungsbescheide Einsprüche ein. Während des Einspruchsverfahrens kam es zu einer Besprechung, an der u.a. die Geschäftsführerin und der steuerliche Berater der Antragstellerin sowie mehrere Vertreter des FA teilnahmen. Als Ergebnis dieser Besprechung wurde eine "Niederschrift über eine tatsächliche Verständigung" gefertigt, in der die Beteiligten erklärten, mit dem Ansatz bestimmter --in der Niederschrift aufgeführter-- Besteuerungsgrundlagen einverstanden zu sein und die darüber getroffene Vereinbarung als bindend zu betrachten. Ferner heißt es in der Niederschrift, dass "nach den durchgeführten Änderungen sämtliche Einsprüche … erledigt" seien.
Am 8. April 1999 erließ das FA entsprechend geänderte Steuerbescheide, die es in verfahrensrechtlicher Hinsicht auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 stützte. Zugleich hob es die bis dahin gewährte Aussetzung der Vollziehung (AdV) auf. Die Antragstellerin legte gegen die genannten Bescheide mit Schreiben vom 9. Juni 1999, das am 11. Juni 1999 beim FA einging, Einspruch ein; zugleich beantragte sie eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie eine AdV der Änderungsbescheide. Das FA lehnte den Antrag auf AdV ab.
Das daraufhin von der Antragstellerin angerufene Finanzgericht (FG) setzte die Vollziehung der Bescheide antragsgemäß aus. Im weiteren Verlauf wies es jedoch die Klage ab, ohne die Revision gegen sein Urteil zuzulassen. Die deshalb eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat der Senat mit Beschluss vom heutigen Tag I B 20/05 als unbegründet zurückgewiesen.
Nach Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde hat die Antragstellerin beim Bundesfinanzhof (BFH) beantragt, die vom FG gewährte AdV bis zum rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen Verfahrens zu gewähren. Dieser Antrag ist Gegenstand des Verfahrens I S 1/05.
Das FA hat die Ablehnung des genannten Antrags beantragt und ausgeführt, der Antrag sei unzulässig, weil die begehrte AdV nicht zuvor von ihm --dem FA-- abgelehnt worden sei. Nachdem zwischenzeitlich ein entsprechender ablehnender Bescheid des FA ergangen war, hat die Antragstellerin erneut einen Antrag auf AdV gestellt, der beim BFH unter dem Aktenzeichen I S 4/05 aufgenommen wurde.
Das FA beantragt, diesen Antrag ebenfalls abzulehnen.
Entscheidungsgründe
II. Die Sachen I S 1/05 und I S 4/05 werden gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 121 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
III. Die Anträge können keinen Erfolg haben. Es kann offen bleiben, ob der zunächst gestellte Antrag aus den vom FA angeführten Gründen unzulässig und der zweite Antrag zulässig ist, oder ob im Gegenteil der erste Antrag zulässig ist und dem zweiten Antrag deshalb der Einwand der Rechtshängigkeit (§ 66 FGO) entgegensteht. Denn beide Anträge sind --ihre Zulässigkeit unterstellt-- jedenfalls unbegründet.
1. Die begehrte AdV kann die Antragstellerin schon deshalb nicht erhalten, weil nach der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des FG feststeht, dass die angefochtenen Bescheide bestandskräftig sind. Damit fehlt es an einem "angefochtenen" Verwaltungsakt i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO. Nur die Vollziehung eines solchen kann aber gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO ausgesetzt werden. Die AdV eines bestandskräftigen Verwaltungsakts ermöglicht das Gesetz nicht (Senatsbeschluss vom 30. Juli 2003 I B 38/03, I S 3/03, BFH/NV 2004, 60, m.w.N.).
2. Allerdings schließt ein Antrag auf AdV, sofern er nicht erkennbar auf eine in die Zukunft wirkende Maßnahme beschränkt wird, zugleich das Begehren nach einer in die Vergangenheit wirkenden Aufhebung der Vollziehung ein (Senatsbeschluss vom 3. Februar 2005 I B 208/04, BStBl II 2005, 465, m.w.N.). Eine solche könnte der Antragstellerin für die Zeit bis zur Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl. dazu z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. Februar 1998 III S 8/97, juris; vom 30. März 2001 V S 2/01, juris; vom 1. Juli 2004 I S 3/04, juris) indessen nur dann gewährt werden, wenn bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ernstliche Zweifel an der inhaltlichen Rechtmäßigkeit der Bescheide bestünden. Das ist nicht der Fall:
a) Im Hinblick auf die dort angesetzten Besteuerungsgrundlagen beruhen die Bescheide auf einer "tatsächlichen Verständigung" zwischen den Beteiligten. Dass eine solche Verständigung getroffen worden ist und dass sie sich u.a. auf die Höhe der angemessenen Geschäftsführerbezüge erstrecken konnte (vgl. hierzu Senatsurteil vom 13. August 1997 I R 12/97, BFH/NV 1998, 498), stellt die Antragstellerin nicht in Frage. Sie rügt lediglich, dass das FA aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht zu einer entsprechenden Steuerfestsetzung berechtigt gewesen sei und dass dies zur Nichtigkeit (§ 125 AO 1977) der gleichwohl erlassenen Änderungsbescheide führe. Damit kann sie jedoch schon deshalb keinen Erfolg haben, weil das FA die "tatsächliche Verständigung" gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 in Steuerbescheide umsetzen durfte. Der Senat verweist hierzu auf seine Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde (Beschluss I B 20/05); die dort (unter II. 2. d) angestellten Erwägungen hält er bei summarischer Betrachtung für nicht ernstlich zweifelhaft.
b) Das FG hat in seiner --der Antragstellerin günstigen-- ursprünglichen AdV-Entscheidung ausgeführt, die streitbefangenen Bescheide seien schon deshalb nicht zweifelsfrei rechtmäßig, weil die Umsetzung einer "tatsächlichen Verständigung" ohne Rücksicht auf die bestehenden verfahrensrechtlichen Änderungsmöglichkeiten gegen ein "Verbot der gesetzesabweichenden Steuerfestsetzung" verstoße. Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
Denn eine "tatsächliche Verständigung" ist inhaltlich im Grundsatz nicht auf eine "gesetzesabweichende" Besteuerung, sondern im Gegenteil auf die Ermittlung der tatsächlich verwirklichten Besteuerungsgrundlagen und damit auf eine gesetzmäßige Steuerfestsetzung gerichtet (vgl. dazu Senatsurteil vom 6. Februar 1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673). Zu einem Verstoß gegen das Gebot der gesetzmäßigen Besteuerung (§ 85 AO 1977) kann sie nur dann führen, wenn sich aus ihr eine offensichtlich unzutreffende Steuerfestsetzung ergibt (BFH-Urteil vom 11. Dezember 1984 VIII R 131/76, BFHE 142, 549, BStBl II 1985, 354, 358; Buciek, Deutsche Steuer-Zeitung 1999, 389, 398, m.w.N.); dafür bieten im Streitfall weder der Vortrag der Antragstellerin noch der sonstige Akteninhalt hinreichende Anhaltspunkte. Und aus verfahrensrechtlicher Sicht schafft § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 gerade die Möglichkeit, eine als zu niedrig erkannte Steuerfestsetzung mit Zustimmung des Betroffenen an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen. Wenn die Finanzbehörde von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, ergibt sich mithin auch daraus keine "gesetzesabweichende", sondern vielmehr eine gesetzeskonforme und vom Gesetzgeber gewollte Besteuerung. Daran hat der Senat ebenfalls keine ernstlichen Zweifel.
c) Vor diesem Hintergrund kann die vom FG angesprochene Frage, ob die streitbefangenen Bescheide innerhalb einer bestimmten Frist angefochten werden mussten und ob die Antragstellerin diese Frist ggf. schuldhaft versäumt hat, letztlich offen bleiben. Denn selbst wenn man annähme, dass mit dem Erlass dieser Bescheide das zuvor eingeleitete Einspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen war, könnte die Vollziehung der Bescheide schon im Hinblick auf deren inhaltliche Rechtmäßigkeit nicht aufgehoben werden.
Fundstellen
Haufe-Index 1414740 |
BFH/NV 2005, 1972 |