Entscheidungsstichwort (Thema)
AdV im Revisionsverfahren
Leitsatz (NV)
1. Zur Beurteilung eines im Revisionsverfahren gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids im Hinblick auf ernstliche bzw. begründete Rechtmäßigkeitszweifel.
2. Aussetzung der Vollziehung (1.) ist zu gewähren, wenn es im Hauptverfahren voraussichtlich zu einer Zurückverweisung kommen wird und sich der Erfolg oder Nichterfolg der Klage noch nicht absehen läßt.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1; ZK Art. 244
Tatbestand
Die Antragstellerin, eine belgische Spedition, ließ in der Zeit von Juli 1991 bis Januar 1992 als Hauptverpflichtete im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren mehrere für die sowjetischen/russischen Truppen in Deutschland bestimmte Sendungen mit Alkohol der belgischen Firma K von dritten Unternehmen von Belgien nach Deutschland befördern. Nach Erkenntnissen des Antragsgegners (Hauptzollamt -- HZA --) wurden die Versandverfahren nicht durch Gestellung bei der jeweiligen Bestimmungszollstelle be endet. Dort finden sich im Gestellungsbuch keine diesbezüglichen Eintragungen, auch gingen Rückscheine bei der belgischen Abgangszollstelle nicht ein. Die von der Antragstellerin vorgelegten Eingangsbescheinigungen hält das HZA für gefälscht. Es nimmt die Antragstellerin durch Steuerbescheide vom 3. und 10. Dezember 1992, bestätigt durch Einspruchsentscheidung vom 29. November 1994, für Eingangsabgaben -- Zoll, Einfuhrumsatzsteuer, Branntweinabgaben -- in Höhe von insgesamt rd. ... DM in Anspruch. Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen gerichtete Klage ab, im wesentlichen mit der Begründung, die Sendungen seien nicht gestellt worden, was die Abgabenschuld in der Person der Antragstellerin begründe; die Eingangsbescheinigungen bewiesen die Gestellung nicht; sie hätten lediglich Unterrichtungsfunktion, aber keine haftungsbefreiende Wirkung.
Mit ihrer Revision -- vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage der Wirkung versandrechtlicher Eingangsbescheinigungen zugelassen -- hat die Antragstellerin eine Reihe von Sach- und Verfahrensrügen erhoben (VII R 3/96) und -- u. a. -- bemängelt, die Vorinstanz habe das Wesen der Eingangsbescheinigung verkannt; diese habe, sofern nicht gefälscht -- was das FG nicht ausgesprochen habe --, Nachweiswirkung hinsichtlich der Gestellung.
Die Antragstellerin hat beim HZA vergeblich um Aussetzung für die Dauer des Revisionsverfahrens nachgesucht. Sie möchte die Aussetzung nunmehr auf gerichtlichem Wege erreichen und verweist zur Begründung auf ihre Revisionsrügen. Im Hinblick hierauf beständen begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide, auch könnte ihr -- Antragstellerin -- ein unersetzbarer Schaden entstehen, wenn auch nur bezüglich etwa in Deutschland befindlicher Vermögensgegenstände. Aus letzterem Grunde sei die Vollziehungsaussetzung auch für das Klageverfahren gewährt worden. Eine Sicherheitsleistung würde zu ernsten Schwierigkeiten (Zahlungsunfähigkeit) führen.
Die Antragstellerin beantragt, die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide ohne Sicherheitsleistung anzuordnen.
Das HZA beantragt, den Antrag abzulehnen.
Es führt insbesondere aus, der Aussetzungsgrund eines unersetzbaren Schadens sei wegen der Ansässigkeit der Antragstellerin in Belgien nicht hinreichend begründet.
Entscheidungsgründe
Der Senat ist, da er über die von der Antragstellerin eingelegte Revision zu befinden hat, als Gericht der Hauptsache (§ 69 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) zur Entscheidung über den Antrag berufen; die Zugangsvoraussetzung nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist erfüllt. Für die Entscheidung maßgebend ist Art. 244 des Zollkodex -- ZK -- (zuletzt Senat, Beschluß vom 9. Januar 1996 VII B 225/95, BFHE 179, 501, 504); ob dies auch in verbrauchsteuerrechtlicher Hinsicht gilt (so etwa für die Einfuhrumsatzsteuer im Hinblick auf § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes FG Hamburg, Beschluß vom 19. Oktober 1994 IV 94/94 H, Entscheidungen der Finanzgerichte 1995, 446), kann offenbleiben, da die Aussetzungsvoraussetzungen nach Gemeinschaftsrecht und nach § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sich im wesentlichen entsprechen (vgl. auch Witte/Alexander, ZK, 1994, Art. 244 Rz. 7), zumindest, soweit es sich um begründete bzw. ernstliche Rechtmäßigkeitszweifel handelt.
Ob derartige Zweifel bestehen, ist bei einem in der Revisionsinstanz anhängigen Rechtsstreit nach revisionsrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Dabei kommt es darauf an, ob unter Berücksichtigung der eingeschränkten Prüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts zu rechnen ist; bei vermutlicher Zurückverweisung ist auf die Erfolgsaussichten des dann fortgesetzten Klageverfahrens abzustellen (Senat, Beschluß vom 24. November 1995 VII S 21/95, BFH/NV 1996, 420; vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl. 1993, § 69 Anm. 87, m. N.). Auch im Rahmen von Art. 244 Unterabsatz 2, 1. Alternative ZK brauchen die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe nicht zu überwiegen (Witte/Alexander, a. a. O., Rz. 8).
Der Antrag hat Erfolg.
Bei der gebotenen summarischen Prüfung sind im Sinne der vorstehend dargestellten Grundsätze begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide anzunehmen. Diese Zweifel bestehen, weil es in der Hauptsache voraussichtlich zu einer Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz kommen wird (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO) und sich aufgrund der bisherigen Feststellungen nicht absehen läßt, ob die Klage letztlich Erfolg haben wird oder nicht.
In einem gleichgelagerten Fall hat der Senat entschieden (Urteil vom 24. September 1996 VII R 107/95, BFH/NV 1997, 452, dem HZA bekannt), daß die versandrechtliche Eingangsbescheinigung, wiewohl noch kein vollgültiger Beweis für die dem Hauptverpflichteten obliegende Gestellung, eine diese bestätigende Wirkung hat und, falls echt, als Anzeichen der erfolgten Gestellung gewertet werden muß; soll diese trotz einwandfreier Eingangsbescheinigung als nicht nachgewiesen erachtet werden -- etwa bei Fehlen des Rückscheins und entsprechender Eintragungen im Gestellungsbuch --, so bedarf es dafür der Darstellung nachvollziehbarer Gründe. Von diesen Grundsätzen wird auch im Verfahren VII R 3/96 auszugehen sein. Ihnen zufolge bedarf es entweder der Feststellung der Fälschung der vorliegenden Bescheinigungen oder aber einer näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob der durch sie erzeugte Anschein nach den gegebenen Umständen entkräftet ist. Da diesbezügliche Feststellungen vom FG -- von dessen Standpunkt aus folgerichtig -- noch nicht getroffen worden sind, werden sie im zweiten Rechtsgang nachzuholen sein. Ihr Ergebnis erscheint nach dem derzeitigen Verfahrensstand offen.
Da sich die Aussetzung der Vollziehung wegen Rechtmäßigkeitszweifeln aus dem angeführten Grunde rechtfertigt, braucht auf die weiteren Rügen der Antragstellerin im Revisionsverfahren nicht eingegangen zu werden. Auch eine Prüfung des Antrags unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit eines unersetzbaren Schadens (Art. 244 Unterabsatz 2, 2. Alternative ZK) bzw. einer unbilligen Härte (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO) erübrigt sich. Die vom HZA hierzu vorgetragenen Gesichtspunkte brauchen nicht behandelt zu werden.
Die hiernach gebotene Aussetzung ist im Interesse wirksamen Rechtsschutzes auf die Zeit bis sechs Wochen nach Zustellung des Revisionsurteils VII R 3/96 zu erstrecken (vgl. hierzu Gräber/Koch, a. a. O., Anm. 141, m. N.). Sie wird ohne Sicherheitsleistung angeordnet, da das Verlangen nach Sicherheit angesichts der Höhe der zu sichernden Abgabenforderungen -- Art. 192 Abs. 1 ZK -- die Antragstellerin in ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen würde (Art. 244 Unterabsatz 3 Satz 2 ZK, nunmehr in der Fassung der Berichtigung gemäß Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 97/38 vom 18. April 1996).
Fundstellen