Entscheidungsstichwort (Thema)
In "Randrechtsbereichen" mit Gründen versehenes Urteil
Leitsatz (NV)
Ein Urteil kann in einem Teilbereich, bezüglich dessen nur ein Hilfsantrag gestellt war, auch dadurch "mit Gründen versehen" sein, daß es zu diesem Themenkreis auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung Bezug nimmt und diese kurz würdigt und billigt.
Normenkette
EStDV § 75; AO 1977 § 175; FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte in den Streitjahren 1974 und 1975 u. a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb als Kommanditist der Firma W-KG.
Die W-KG hatte in den Streitjahren Sonderabschreibungen gemäß §75 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) für abnutzbare bewegliche und unbewegliche Wirtschaftsgüter vorgenommen. Der Kläger hatte die auf ihn entfallenden Sonderabschreibungen zunächst zu 1/3 in 1974 und zu 2/3 in 1975, später jedoch voll in 1974 beansprucht. Das für die W-KG zuständige Betriebsfinanzamt war dem gefolgt. Streitig blieben in den Feststellungsverfahren Sonderbetriebsausgaben des Klägers und die Verteilung der Sonderabschreibungen. Das Finanzgericht (FG) B entschied hierüber mit Urteil vom 11. Februar 1992. Es übertrug dem Antrag des Klägers entsprechend 2800 DM der Sonderabschreibungen von 1974 auf 1975 und stellte den Verlustanteil des Klägers für 1974 auf 13 353 DM und für 1975 auf 5081 DM fest.
Am 18. Februar 1993 stellte der Kläger beim Betriebsfinanzamt erneut einen Antrag, die Sonderabschreibungen für die Jahre 1974 und 1975 geändert zu verteilen. Gegen die ablehnende Einspruchsentscheidung erhob er Klage.
Die Einkommensteuerveranlagungen der zusammenveranlagten Kläger für die beiden Streitjahre waren mehrfach geändert worden, zuletzt durch Bescheide vom 13. August 1986 für 1974 und vom 12. August 1986 für 1975. Aufgrund einer Mitteilung des Betriebsfinanzamts über die vom FG festgestellten Einkünfte des Klägers aus seiner Beteiligung an der W-KG erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) am 29. September 1992 für 1975 und am 1. Oktober 1992 für 1974 nach §175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Einkommensteuerbescheide. Die Einsprüche gegen diese Bescheide hatten keinen Erfolg.
Mit der Klage machten die Kläger im wesentlichen Verjährung, Verwirkung und Unzumutbarkeit wegen überlanger Verfahrensdauer geltend. Sie beantragten, die Einspruchsentscheidungen vom 31. Mai 1994 und die Einkommensteuerbescheide für 1974 vom 1. Oktober 1992 und für 1975 vom 29. September 1992 aufzuheben, hilfsweise, die vorgenannten Bescheide dahingehend zu ändern, daß hinsichtlich des Volumens der Sonderabschreibungen nach §75 EStDV ein Betrag von 6500 DM als gewerblicher Verlust von 1974 auf 1975 übertragen wird.
Das FG hat die Klage abgewiesen. Es führt im wesentlichen aus, sie sei weder im Haupt- noch in ihrem Hilfsantrag begründet. Das FA habe in seinen beiden Einspruchsentscheidungen vom 31. Mai 1994 eingehend begründet, daß die durch Urteil des FG B vom 11. Februar 1992 einheitlich und gesondert festgestellten Einkünfte des Klägers für 1974 und 1975 bei den Einkommensteuerveranlagungen der Kläger bindend zu übernehmen gewesen seien. Die Ausführungen des FA zu §175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 i. V. m. Art. 97 §9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) seien ebenso richtig wie die Darlegungen zur Frage der Verjährung. Der Senat sehe insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. §105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Zur Frage der Bindung des Wohnsitzfinanzamts nach §175 AO 1977 wie auch zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Recht verwirkt sein könne, habe sich der Senat im rechtskräftigen Urteil vom 25. Juni 1987 betreffend Einkommensteuer 1975 der Kläger ausführlich geäußert. Er verweise darauf. Die vom Kläger behaupteten Rechtsverletzungen existierten nicht. Das FA habe zu keiner Zeit auf die Geltendmachung seines Rechts auf Änderung der Folgebescheide verzichtet. Im Schriftsatz vom 19. Juli 1995 hätten die Kläger Ausführungen zur Frage des Existenzminimums in den Streitjahren gemacht. Sofern und soweit sie ihre im Vorverfahren vertretene Rechtsauffassung aufrechterhielten, nehme der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Darlegungen des FA in der Einspruchsentscheidung vom 31. Mai 1994 Bezug. Er schließe sich diesen Rechtsauffassungen an.
Die nicht zugelassene Revision stützen die Kläger auf §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO. Das Urteil enthalte zum Teil, und zwar in wesentlichen Punkten, keine Begründung. Hinsichtlich des ihren Sohn betreffenden Teils des Existenzminimums und der Frage, ob dieses im Steuerrecht der Jahre 1974 und 1975 in ausreichender Weise berücksichtigt gewesen sei, enthielten das Urteil und die Einspruchsentscheidung nicht ein einziges Wort. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 29. Mai 1990 (BStBl II 1990, 653), welche zwar nicht direkt für die betroffenen Streitjahre ergangen sei, sei die erforderliche Kombination von Kindergeld und Kinderfreibetrag bis 31. Dezember 1985 nicht mehr in verfassungsgemäßer Weise ihrer Funktion gerecht geworden, der Minderung der Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen, die durch den Unterhalt für Kinder bedingt sei, Rechnung zu tragen. Das BVerfG hebe ausdrücklich hervor, daß das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben müsse. Für noch nicht bestandskräftige Steuerfälle sei ein Ausgleich verpflichtend vorzunehmen. Das angefochtene Urteil schaffe einen derartigen Ausgleich nicht. Die Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung vom 31. Mai 1994 (S. 8 und 9) könne die im Urteil erforderliche Begründung nicht ersetzen; denn Gegenstand sei nicht nur ein Steuerjahr, sondern 1974 und 1975. Es gebe für jedes dieser Jahre eine separate Einspruchsentscheidung. Das Urteil lasse nicht erkennen, auf welche dieser beiden Entscheidungen Bezug genommen werden solle. Es handle sich offenbar um die Einspruchsentscheidung für 1975, welche auf den Seiten 8 und 9 Ausführungen zum Grundfreibetrag enthalte. Für das Jahr 1974 fehle eine Bezugnahme, so daß es dem Urteil insoweit an der vorgeschriebenen Begründung mangele. Auch hinsichtlich ihres Hilfsantrags seien die Voraussetzungen des §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO gegeben. Soweit das Urteil Ausführungen zur Bindungswirkung der Feststellungsbescheide des Betriebsfinanzamts enthalte, befaßten sich diese nach dem klaren Wortlaut des Urteils nur mit §175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 und der Verjährungsfrage. Sie hätten jedoch in ihrem Schriftsatz vom 19. Juli 1995 die Rechtsmeinung vertreten, daß es zwar Sache des Betriebsfinanzamts sei, in derartigen Fällen das Volumen der Absetzung für Abnutzung (AfA) festzustellen, die Verteilung dieses AfA-Volumens auf die jeweiligen Steuerjahre habe jedoch gemäß Antrag der Steuerpflichtigen beim Wohnsitzfinanzamt zu erfolgen. Hierzu enthalte das Urteil keine Ausführungen.
Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil, die Einspruchsentscheidungen vom 31. Mai 1994 und die angefochtenen Einkommensteuerbescheide für 1974 vom 1. Oktober 1992 und für 1975 vom 27. September 1992 aufzuheben, hilfsweise, das angefochtene Urteil und die Einspruchsentscheidungen aufzuheben und das Verfahren an das FA, hilfsweise an das FG zurückzuverweisen, weiter hilfsweise, die Einkommensteuerbescheide 1974 und 1975 dahingehend zu ändern, daß hinsichtlich des Volumens der Sonderabschreibung gemäß §75 EStDV ein Betrag von 6500 DM als gewerblicher Verlust von 1974 auf 1975 übertragen wird.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig. Der geltend gemachte Verfahrensmangel gemäß §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ist nicht schlüssig gerügt. Die Revision ist gemäß §124 Abs. 1, §126 Abs. 1 FGO durch Beschluß zu verwerfen.
Zur schlüssigen Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels i. S. des §116 Abs. 1 FGO sind Tatsachen vorzutragen, die -- ihre Richtigkeit unterstellt -- den Mangel ergeben (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 29. Juni 1989 V R 112/88, V B 72/89, BFHE 157, 308, BStBl II 1989, 850; vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638, und vom 22. Juni 1994 II R 1/94, BFH/NV 1995, 136). Ein Fehlen von Entscheidungsgründen im Sinne der Nr. 5 dieser Vorschrift ist dann anzunehmen, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit zu überprüfen (BFH-Urteil vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, BStBl II 1985, 417). Dies ist nach ständiger Rechtsprechung nicht nur dann der Fall, wenn die Entscheidung überhaupt nicht mit Gründen versehen ist, sondern bereits dann, wenn das FG einen selbständigen prozessualen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638 und BFH-Urteil vom 20. Februar 1997 VII R 102/96, BFH/NV 1997, 677, m. w. N.). Unter selbständigen Ansprüchen und Verteidigungsmitteln sind nur die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (vgl. BFH-Urteile vom 6. März 1985 II R 240/83, BFHE 143, 393, BStBl II 1985, 494, und in BFH/NV 1997, 677, m. w. N.).
Das Fehlen der Gründe ist abzugrenzen gegen das Vorliegen unvollständiger oder unzureichender Gründe, bei denen lediglich auf einzelne Argumente der Beteiligten nicht eingegangen worden ist. Entscheidend ist, ob für die Beteiligten erkennbar ist, welcher Grund -- mag dieser tatsächlich vorgelegen haben oder nicht, mag er rechtsfehlerhaft beurteilt worden sein oder nicht -- für die Entscheidung über den einzelnen Anspruch (Klagegrund) und das einzelne Verteidigungsmittel maßgebend gewesen ist.
Im Streitfall ergibt sich aus dem Vortrag der Kläger, daß das angefochtene Urteil hinsichtlich der Frage des Existenzminimums durch die Bezugnahme auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung betreffend Einkommensteuer 1975 mit Gründen versehen ist. Dies gilt für beide Streitjahre; denn das FG unterscheidet insoweit nicht. Eine Unterscheidung ist auch nicht geboten, da die Problematik dieselbe ist und sich die unterschiedliche Gesetzeslage erst bei entsprechenden Berechnungen auswirken kann. Im übrigen zeigt die eingehende Auseinandersetzung der Kläger in der Revisionsbegründung mit den in der Einspruchsentscheidung betreffend Einkommensteuer 1975 genannten Entscheidungen des BVerfG vom 25. September 1992 (BStBl II 1993, 413) und des BFH vom 8. Juni 1990 III R 14/90 (BStBl II 1990, 969), daß ihnen das angefochtene Urteil die Überprüfung der insoweit maßgebenden Erwägungen des FG ermöglicht hat. Letztlich rügen die Kläger insoweit keinen Verfahrensmangel, sondern fehlerhafte Rechtsanwendung.
Auch die Rüge, daß die Entscheidung des FG über den Hilfsantrag nicht mit Gründen versehen sei, ist nicht schlüssig erhoben. Wie die Kläger selbst vortragen, enthält das Urteil Ausführungen zur Bindungswirkung der Feststellungsbescheide des Betriebsfinanzamts. Das FG hat unter Hinweis auf die Einspruchsentscheidungen ausgeführt, daß die durch Urteil des FG B festgestellten Einkünfte des Klägers für 1974 und 1975 bei den Einkommensteuerveranlagungen der Kläger bindend zu übernehmen waren. Diese Begründung ist zwar kurz. Sie ist angesichts des Hilfsantrags aber ausreichend; denn dieser zielte auf eine Rechtsfolge ab, die das geltende Steuerrecht ganz offensichtlich nicht vorsieht. Auch die Kläger gehen, wir ihr Vorgehen gegen die Feststellungsbescheide zeigt, davon aus, daß die von der W-KG in Anspruch genommenen Sonderabschreibungen im Feststellungsverfahren und nicht im Veranlagungsverfahren auf die Streitjahre zu verteilen sind. Bei dieser Sachlage bedurfte es zur Ablehnung des Hilfsantrags keiner weiteren Begründung als des Hinweises auf die bindende Wirkung der gesonderten und einheitlichen Feststellung für die Einkommensteuerfestsetzung.
Fundstellen
Haufe-Index 67032 |
BFH/NV 1998, 863 |