Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionszulassung wegen schwerwiegenden Fehlers des FG
Leitsatz (amtlich)
1. Schwerwiegende Fehler des FG bei der Anwendung und Auslegung revisiblen Rechts ermöglichen die Zulassung der Revision. Ein solcher Fehler liegt jedenfalls dann vor, wenn die Entscheidung des FG als objektiv willkürlich oder unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar erscheint.
2. Liegt ein derartiger Fehler vor und wird er mit einer Nichtzulassungsbeschwerde ordnungsgemäß gerügt, ist die Revision zuzulassen. Eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im Beschwerdeverfahren kommt anders als bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (Verfahrensmangel) nicht in Betracht.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2, § 116 Abs. 3, 6
Verfahrensgang
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) war zuzulassen.
Es kann dahinstehen, ob alle Rügen den Anforderungen an eine schlüssige Darlegung nach § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entsprechen. Denn zumindest ist die Rüge, schwerwiegende Rechtsfehler im FG-Urteil, das mit der rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sei, erforderten eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH), zulässig erhoben worden und auch begründet.
1. a) Mit der Neufassung der Revisionszulassungsgründe durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) hat der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien beabsichtigt, in die Revision auch alle Tatbestände einzubeziehen, "in denen über den Einzelfall hinaus ein allgemeines Interesse an einer korrigierenden Entscheidung des Revisionsgerichts besteht" (Begründung zum Gesetzentwurf, BTDrucks 14/4061, 9). Weiter heißt es in der Gesetzesbegründung: "Fehler bei der Auslegung revisiblen Rechts können über den Einzelfall hinaus auch dann allgemeine Interessen nachhaltig berühren, wenn sie z.B. von erheblichem Gewicht und geeignet sind, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen. In diesen Fällen kann es geboten sein, der Rechtspraxis auch dann eine höchstrichterliche Orientierungshilfe zu geben, wenn die engen Zulassungsgründe des bisherigen Rechts nicht vorliegen."
Zwar hat der Gesetzgeber es versäumt, dieses Vorhaben durch entsprechende Fassung des Wortlauts von § 115 Abs. 2 FGO klar erkennbar umzusetzen. Gleichwohl ist nach der seither ergangenen Rechtsprechung des BFH davon auszugehen, dass besonders schwerwiegende Fehler des FG bei der Auslegung revisiblen Rechts die Zulassung der Revision ermöglichen (Senatsbeschluss vom 12. August 2003 IV B 189/01, BFH/NV 2003, 1604). Die Frage, ob dafür an Nr. 1 oder Nr. 2 des § 115 Abs. 2 FGO anzuknüpfen ist (vgl. dazu z.B. Senatsbeschluss vom 30. August 2001 IV B 79, 80/01, BFHE 196, 30, BStBl II 2001, 837; Lange, Deutsche Steuer-Zeitung ―DStZ― 2002, 782, 784), ist dabei im Ergebnis ohne Bedeutung.
b) Wenn auch eine allgemeingültige Definition eines derart schwerwiegenden Fehlers von der Rechtsprechung noch nicht entwickelt worden ist, hat der BFH dessen Voraussetzungen doch zumindest dann bejaht, wenn die Entscheidung des FG objektiv willkürlich erscheint oder auf sachfremden Erwägungen beruht und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist (BFH-Beschlüsse in BFHE 196, 30, BStBl II 2001, 837, und vom 22. Mai 2002 VIII B 60/01, juris; Lange, DStZ 2002, 782, 784).
c) Solche Fehler hat die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ausdrücklich geltend gemacht, indem sie rügt, das Urteil sei willkürlich, weil eine weit außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegende Besteuerungsgrundlage geschätzt worden sei (Abweichung von Richtsätzen um über 300 %; Gewinn von 94 % des Umsatzes). Ihm hafteten deshalb derart schwerwiegende Fehler an, dass es mit der rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sei.
2. Der beschließende Senat hält diese Rüge im Streitfall auch für durchgreifend.
Das FG billigt mit seinem Urteil eine Schätzung des Gewinns durch den Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ―FA―), die nur als objektiv willkürlich angesehen werden kann. Da dem FG ―wie es selbst ausführt― eine eigene Schätzungsbefugnis zukommt, ist sein Urteil, mit dem es die Schätzung unverändert übernimmt, weil sie "in sich schlüssig, wirtschaftlich vernünftig und möglich" sei, seinerseits als objektiv willkürlich anzusehen.
a) Dabei ist nicht zweifelhaft, dass eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen dem Grunde nach vorgenommen werden durfte. Im Rahmen der Schätzung können Tatsachenfeststellungen auch mit einem geringeren Grad an Überzeugung getroffen werden, als dies in der Regel geboten ist (Reduzierung des Beweismaßes; vgl. BFH-Urteile vom 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462; vom 14. August 1991 X R 86/88, BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128). Der Grad der grundsätzlich erforderlichen Gewissheit verringert sich dabei soweit, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf. Das gewonnene Schätzungsergebnis muss aber jedenfalls schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (vgl. BFH-Beschluss vom 28. März 2001 VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217, m.w.N.). Verlässt die Schätzung den durch die Umstände des Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmen, ist sie rechtswidrig. Ausnahmsweise kann eine fehlerhafte Schätzung sogar die Nichtigkeit des auf ihr beruhenden Verwaltungsakts zur Folge haben, wenn sich das FA nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat (BFH-Urteile vom 20. Dezember 2000 I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381; vom 1. Oktober 1992 IV R 34/90, BFHE 169, 503, BStBl II 1993, 259).
b) Im Streitfall ist der Schätzungsrahmen offensichtlich verlassen worden. Es erscheint ausgeschlossen, dass der Gewinn aus dem Betrieb einer Taxe mit einem Umsatz von ca. 110 000 DM, der auf der Basis von 80 000 km Wegstrecke geschätzt worden ist, über 94 000 DM beträgt. Hierzu ist aber die Betriebsprüfung für die Taxe des Gesellschafters A im Jahr 1995 gekommen, obwohl dieser sogar im Hinblick auf seine Tätigkeit als Geschäftsführer eines anderen Unternehmens nur eingeschränkt selbst als Fahrer zur Verfügung stand. Die Ergebnisse für die Jahre 1993 und 1994 sind ähnlich unrealistisch. Dass hiermit ein eklatant falsches Schätzungsergebnis gefunden worden ist, hätte der Außenprüfung und der Rechtsbehelfsstelle des FA ebenso wie dem FG auf den ersten Blick einleuchten müssen. Da die Schätzungsgrundlagen mithin nicht zutreffen können, wäre deren Überprüfung zwingend erforderlich gewesen.
3. Der Senat lässt dementsprechend die Revision zu. Er kann nicht nach § 116 Abs. 6 FGO verfahren und das Urteil bereits im Beschwerdeverfahren aufheben.
Nach § 116 Abs. 6 FGO kann der BFH bei Vorliegen eines Verfahrensfehlers i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen. Diese Regelung ist eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Nichtzulassungsbeschwerde im Fall eines Erfolgs nur die Zulassung der Revision zur Folge haben kann. Im Hinblick auf diesen Ausnahmecharakter erscheint dem Senat eine analoge Anwendung auf Fälle, in denen die Revision wegen eines schwerwiegenden materiell-rechtlichen Fehlers in der angefochtenen Entscheidung zuzulassen ist, auch dann nicht möglich, wenn die Beseitigung des Fehlers zu einer Zurückverweisung an das FG führen müsste.
4. Von einer weiteren Begründung, insbesondere von einer Darstellung des Tatbestands, sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
Fundstellen
Haufe-Index 1084035 |
BFH/NV 2004, 286 |
BStBl II 2004, 25 |
BFHE 2004, 404 |
BFHE 203, 404 |
BB 2004, 92 |
DB 2004, 292 |
DStRE 2004, 173 |
DStZ 2004, 94 |
HFR 2004, 239 |