Entscheidungsstichwort (Thema)
Bei Hinweisen auf Notwendigkeit einer gesonderten Feststellung ist Klageverfahren gegen Einkommensteuerbescheid auszusetzen
Leitsatz (NV)
1. Voraussetzung für den Erlass eines gesonderten Gewinnfeststellungsbescheides gemäß § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 ist das Auseinanderfallen der örtlichen Zuständigkeit für die gesonderte Gewinnfeststellung und für die Steuern vom Einkommen. Bei freiberuflichen Einkünften ist dies dann gegeben, wenn die freiberufliche Tätigkeit vorwiegend von einem anderen als dem Bezirk des Wohnsitz-FA ausgeübt wird.
2. Übt ein Steuerpflichtiger seine freiberufliche Tätigkeit in mehreren Gemeinden aus, so ist für die dadurch erzielten Einkünfte nur eine gesonderte Feststellung durchzuführen. Zuständig ist das FA, von dessen Bezirk aus die freiberufliche Tätigkeit vorwiegend ausgeübt wird.
3. Erscheint es möglich, dass eine bisher unterlassene gesonderte Feststellung durchzuführen ist, so hat das FG das Verfahren gegen den Einkommensteuerbescheid auszusetzen, bis über die Notwendigkeit einer gesonderten Feststellung durch ‐ positiven oder negativen ‐ Feststellungsbescheid verbindlich entschieden worden ist.
Normenkette
FGO §§ 74, 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6; AO 1977 §§ 18-19, 86, 157 Abs. 2, § 179 Abs. 1, § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, Abs. 3 S. 1 Nr. 2; EStG § 18
Verfahrensgang
FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13.10.2005; Aktenzeichen 6 K 2497/04) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist selbständiger Unternehmensberater. Er arbeitete in den Streitjahren 1995 bis 1999 bis zum 30. Juni 1998 ausschließlich für die … AG in D. Die Kläger reichten ihre Einkommensteuererklärungen beim Beklagten und Beschwerdegegner, dem Wohnsitzfinanzamt (im Folgenden: Wohnsitz-FA), ein. Im Anschluss an eine Außenprüfung war das Wohnsitz-FA der Ansicht, dass bei den Einkünften des Klägers aus selbständiger Arbeit (§ 18 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) u.a.
- die Fahrtkosten vom Wohnort zur … AG gemäß § 4 Abs. 5 Nr. 6 EStG nur begrenzt abzugsfähig,
- keine Verpflegungsmehraufwendungen zu berücksichtigen,
- für die private PKW-Nutzung die 1 v.H.-Regelung gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG anzuwenden und
- die geltend gemachten Kosten für das Büro im Wohnhaus der Kläger unter Berücksichtigung der Ausstattung der Räume steuerlich nicht anzuerkennen
seien.
Das Finanzgericht (FG) wies nach erfolglosem Einspruch die Klage gegen die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 1995 bis 1999 als unbegründet ab. Es führte u.a. aus, es handele sich bei dem Arbeitsplatz des Klägers bei der … AG in D um eine Betriebsstätte i.S. des § 4 Abs. 5 Nr. 6 EStG; es spreche nichts dafür, dass der Kernbereich der Tätigkeit des Klägers in seinem Büro in der Wohnung gelegen haben könnte, so dass die Fahrten von dort zur Betriebsstätte in D nicht als Geschäftsreisen anerkannt werden könnten.
Es ließ dahingestellt, ob bei dieser Sachlage --wie die Kläger geltend gemacht hatten-- wegen der Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit gemäß § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) eine gesonderte Feststellung der Einkünfte durch das Finanzamt D (Betriebsstätten-FA) hätte durchgeführt werden müssen. Denn auch wenn eine nach diesen Vorschriften erforderliche gesonderte Feststellung durch das Betriebsstätten-FA nicht stattgefunden habe, sei das Wohnsitz-FA berechtigt, die betreffenden Einkünfte in der Einkommensteuerveranlagung zu berücksichtigen. Eine spätere Feststellung der Einkünfte habe lediglich zur Folge, dass der Einkommensteuerbescheid sodann entsprechend zu ändern sei. Unterbleibe eine erforderliche Feststellung, so folge daraus jedoch nicht, dass die betreffenden Einkünfte gänzlich unberücksichtigt zu bleiben hätten.
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügen die Kläger u.a., das FG hätte auf der Grundlage seiner eigenen Rechtsauffassung, dass der Kernbereich der Tätigkeit des Klägers in D gelegen habe, das Verfahren gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aussetzen müssen. Denn wenn der Kernbereich der Tätigkeit des Klägers in D gelegen habe, hätten seine Einkünfte aus § 18 EStG durch das dafür zuständige Betriebsstätten-FA gesondert festgestellt werden müssen (§ 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977). In ständiger Rechtsprechung verlange der Bundesfinanzhof (BFH), dass bereits dann über einen bestimmten Sachverhalt in einem (positiven oder negativen) Feststellungsbescheid zu entscheiden sei, wenn das Erfordernis für eine Entscheidung in dem gesonderten Feststellungsverfahren möglich erscheine (Urteil vom 9. Mai 1984 I R 25/81, BFHE 141, 252, BStBl II 1984, 726). Die (positiven oder negativen) Feststellungsbescheide seien für Folgebescheide wie den Einkommensteuerbescheid bindend (§ 182 Abs. 1 AO 1977). Für die Aussetzung des Verfahrens spiele es auch keine Rolle, ob der Feststellungsbescheid bereits ergangen und angefochten sei oder ob ein solcher noch erst ergehen müsse (BFH-Beschluss vom 16. April 1993 I B 173/92, BFH/NV 1993, 745).
Das Wohnsitz-FA hält die Beschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Das FG hat einen Verfahrensfehler begangen, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Es hätte die Frage, ob für die Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) eine gesonderte Feststellung durchzuführen ist, nicht offenlassen dürfen, sondern das Verfahren zur Klärung dieser Frage gemäß § 74 FGO aussetzen müssen. Das angefochtene Urteil wird deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO).
1. Für die Besteuerung natürlicher Personen nach dem Einkommen und Vermögen ist das FA zuständig, in dessen Bezirk der Steuerpflichtige seinen Wohnsitz oder in Ermangelung eines Wohnsitzes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 19 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Die Einkommensteuer wird durch Steuerbescheid festgesetzt. Dabei bildet die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen einen mit Rechtsbehelfen nicht selbständig anfechtbaren Teil des Steuerbescheids, soweit die Besteuerungsgrundlagen nicht gesondert festgestellt werden (§ 157 Abs. 2 AO 1977). Nach § 179 Abs. 1 AO 1977 werden die Besteuerungsgrundlagen abweichend von § 157 Abs. 2 AO 1977 durch Feststellungsbescheid gesondert festgestellt, soweit dies in der AO 1977 oder sonst in den Steuergesetzen bestimmt ist.
Einkünfte aus einer freiberuflichen Tätigkeit werden nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 gesondert festgestellt, wenn das für die gesonderte Feststellung zuständige FA (vgl. § 18 AO 1977) nicht auch für die Steuern vom Einkommen (vgl. § 19 AO 1977) zuständig ist. Nach § 18 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977 ist für die gesonderte Feststellung nach § 180 AO 1977 bei freiberuflicher Tätigkeit das FA örtlich zuständig, von dessen Bezirk aus die Berufstätigkeit vorwiegend ausgeübt wird. Tatbestandsmäßige Voraussetzung für den Erlass eines gesonderten Gewinnfeststellungsbescheids gemäß § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 ist somit das Auseinanderfallen der örtlichen Zuständigkeit für die gesonderte Gewinnfeststellung (§ 18 AO 1977) und für die Steuern vom Einkommen (§ 19 AO 1977; vgl. BFH-Urteile vom 15. April 1986 VIII R 325/84, BFHE 147, 101, BStBl II 1987, 195; vom 9. August 1995 XI R 109/92, BFH/NV 1996, 404). Bei freiberuflichen Einkünften ist dies dann gegeben, wenn die freiberufliche Tätigkeit vorwiegend von einem anderen als dem Bezirk des Wohnsitz-FA aus ausgeübt wird. Die örtliche Zuständigkeit des Betriebsstätten-FA ist zugleich Tatbestandsvoraussetzung in § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 für die Durchführung einer gesonderten Feststellung (vgl. zu BFH-Urteil vom 17. Dezember 2003 XI R 13/01, BFH/NV 2004, 909).
Übt ein Steuerpflichtiger seine freiberufliche Tätigkeit in mehreren Gemeinden aus, ist für die dadurch erzielten Einkünfte nur eine gesonderte Feststellung durchzuführen; zuständig ist dann das FA, von dessen Bezirk aus die freiberufliche Tätigkeit vorwiegend ausgeübt wird, d.h. in dessen Bezirk der Schwerpunkt der Berufstätigkeit liegt (vgl. BFH-Urteil vom 10. Juni 1999 IV R 69/98, BFHE 189, 8, BStBl II 1999, 691). Ist das FA, von dessen Bezirk aus die Tätigkeit vorwiegend ausgeübt wird, zugleich das Wohnsitz-FA, so bedarf es für die außerhalb der Wohnsitzgemeinde erzielten Einkünfte keiner gesonderten Feststellung (BFH-Urteil in BFHE 189, 8, BStBl II 1999, 691).
2. Die Abtrennung der Feststellung einer Besteuerungsgrundlage von dem eigentlichen Steuerfestsetzungsverfahren bewirkt notwendigerweise eine Kompetenzverteilung zwischen den für die Feststellung der Besteuerungsgrundlage und den für die Festsetzung der Steuer zuständigen Finanzbehörden. Wegen dieser Kompetenzverteilung und des sich aus § 86 AO 1977 ergebenden Legalitätsprinzips kann nach der Rechtsprechung des BFH die Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Mitunternehmerschaft verbindlich nur in dem --ggf. noch einzuleitenden-- Grundlagenverfahren getroffen werden; dementsprechend ist ein (positiver oder negativer) Feststellungsbescheid gemäß § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 schon dann zu erlassen, wenn das Bestehen einer Mitunternehmerschaft behauptet wird oder auf Grund des (ggf. streitigen) Sachverhalts möglich erscheint (BFH-Urteil in BFHE 141, 252, BStBl II 1984, 726; Beschluss vom 1. Juli 1992 X B 143/91, BFH/NV 1992, 762; Urteile vom 6. Dezember 1995 I R 131/94, BFH/NV 1996, 592; vom 17. Dezember 2003 I R 47/02, BFH/NV 2004, 771). Für die gesonderte Feststellung nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 (vgl. dazu BFH-Urteil in BFH/NV 1996, 404) kann nichts anderes gelten.
Das FG muss das die Steuerfestsetzung betreffende Verfahren selbst dann bis zum Abschluss eines Feststellungsverfahrens nach § 74 FGO aussetzen, wenn es möglich erscheint, dass wegen der geringen Bedeutung des Falles (§ 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) ein sog. Negativbescheid erlassen wird; die Aussetzung kann allenfalls dann unterbleiben, wenn offensichtlich ein Fall von geringer Bedeutung vorliegt (BFH-Urteil vom 8. März 1994 IX R 37/90, BFH/NV 1994, 868).
3. Bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall hätte das FG das Verfahren gemäß § 74 FGO aussetzen müssen.
Es erscheint auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen möglich, dass eine gesonderte Feststellung gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 durchzuführen ist. Denn das FG hat festgestellt, der Kläger habe seine freiberufliche Tätigkeit überwiegend in D, also außerhalb des Zuständigkeitsbereichs seines Wohnsitz-FA, des Beklagten, ausgeübt. Dementsprechend hat das FG auch die Frage, ob eine gesonderte Feststellung erforderlich ist, nicht etwa verneint, sondern ausdrücklich offengelassen. Die Entscheidung des FG über die Rechtmäßigkeit der Einkommensteuerbescheide ohne Aussetzung des Verfahrens kann im Ergebnis auch nicht mit der Begründung gerechtfertigt werden, dass es sich um einen offensichtlichen Fall von geringer Bedeutung i.S. des § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 handele. Ein Fall von geringer Bedeutung ist anzunehmen, wenn es sich um einen leicht überschaubaren Sachverhalt handelt, die Ermittlung der Einkünfte hinsichtlich der Höhe und der Zurechnung verhältnismäßig einfach und die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen nahezu ausgeschlossen ist (vgl. BFH-Urteil vom 10. August 1994 X R 45/91, BFH/NV 1995, 387). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Denn es besteht Streit über zahlreiche Fragen des materiellen Steuerrechts, über die --möglicherweise-- dann in einem falschen Verfahren entschieden würde, wenn das angefochtene Urteil rechtskräftig würde und damit offenbliebe, ob eine gesonderte Feststellung durchzuführen ist.
4. Da das FG von anderen Voraussetzungen ausgegangen ist, ist seine Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben. Das FG wird das Verfahren auszusetzen haben, um dem Wohnsitz-FA Gelegenheit zur Klärung seiner Zuständigkeit durch Herbeiführung einer Entscheidung des in Betracht kommenden Betriebsstätten-FA zu geben.
Fundstellen