Abgabe der ESt-Erklärung beim unzuständigen Finanzamt
Hintergrund: Unterlassene Weiterleitung der ESt-Erklärung an das zuständige FA
Streitig war, ob dem Erlass eines ESt-Änderungsbescheids für 2010 Festsetzungsverjährung entgegensteht.
X ist Insolvenzverwalter über den Nachlass des M. Das Insolvenzverfahren wurde 2008 eröffnet.
M war selbständiger Architekt. Für die gesonderte Feststellung der freiberuflichen Einkünfte war das FA H zuständig. Das FA A war für die ESt-Veranlagung zuständig.
Nach dem Tod des M (in 2020) schätzte das FA A den Gewinn aus selbständiger Tätigkeit für 2010 auf 0 EUR und setzte die ESt auf 0 EUR fest, da trotz Aufforderung keine ESt-Erklärung abgegeben wurde.
Auch nach mehrmaliger Aufforderung zur Abgabe der Feststellungs- und ESt-Erklärung durch das FA H wurden keine Erklärungen eingereicht. Das FA H schätzte daher den Gewinn (1.6 Mio. EUR). Das FA H hatte zuvor Fristverlängerungsanträge – ausdrücklich auch für die ESt-Erklärung (obwohl dafür nicht zuständig) – abgelehnt
In 2011 reichte X die Gewinnermittlung für die freiberufliche Tätigkeit beim FA H ein. Beigefügt war eine an das FA H gerichtete auf amtlichem Vordruck gefertigte ESt-Erklärung, die in der Anlage S einen Gewinn aus selbständiger Tätigkeit von 900.000 EUR auswies.
Das FA H erließ daraufhin im Oktober 2011 einen geänderten Gewinnfeststellungsbescheid und reduzierte die Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit auf 900.000 EUR. Die ESt-Erklärung 2010 nahm das Finanzamt H lediglich zu den Akten. Es leitete die Erklärung weder an das FA A weiter, noch informierte es über deren Eingang.
Wegen eines Fehlers hob das FA H den Gewinnfeststellungsbescheid auf und erließ in 2012 einen geänderten Feststellungsbescheid (selbständige Einkünfte 900.000 EUR) mit einer entsprechenden Mitteilung an das FA A. Im Anschluss hieran erließ das FA A in 2013 einen ESt-Änderungsbescheid, in dem es Einkünfte aus selbständiger Arbeit laut gesonderter Feststellung in Höhe von 900.000 EUR ansetzte.
Nachdem X mitgeteilte hatte, diesen Bescheid nicht erhalten zu haben, erließ das FA A erst am 6.10.2016 einen geänderten ESt-Bescheid, mit dem es die ESt auf 400.000 EUR (u.a. wegen Berücksichtigung einer KG-Beteiligung des M) festsetzte.
Hiergegen wandte X Festsetzungsverjährung ein. Nach Abgabe der ESt-Erklärung beim FA H am 19.10.2011 habe dem ESt-Änderungsbescheid des FA A vom 06.10.2016 der Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist zum 31.12.2015 entgegengestanden.
Das FG teilte diese Auffassung und gab der Klage im Streitpunkt statt.
Entscheidung: Beginn der Festsetzungsfrist mit Erklärungsabgabe beim unzuständigen FA
Der BFH wies die Revision des FA zurück. Aufgrund der besonderen Gegebenheiten des Streitfalls hat die Abgabe der ESt-Erklärung 2010 bei dem für die ESt-Veranlagung unzuständigen Finanzamt H am 19.10.2011 ausnahmsweise bewirkt, dass die Festsetzungsfrist bereits mit Ablauf des Kalenderjahrs 2011 zu laufen begonnen hat. Die Festsetzungsfrist endete daher mit Ablauf des 31.12.2015.
Wirksame ESt-Erklärung
X hat als Insolvenzverwalter eine teils unvollständige, aber gleichwohl wirksame ESt-Erklärung abgegeben. Der Vordruck enthielt die erforderlichen Mindestangaben zu M, um ein ordnungsgemäßes Veranlagungsverfahren in Gang zu setzen (BFH v. 23.05.2012, II R 56/10, BFH/NV 2012, S. 1579).
Grundsätzlich Ende der Anlaufhemmung mit Einreichung beim zuständigen FA
Die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO wird grundsätzlich nur durch die Abgabe der Erklärung beim zuständigen FA beendet. Dies folgt aus der in §§ 17, 19 AO angeordneten örtlichen Zuständigkeit des Wohnsitz-FA. Wird die Erklärung bei einer unzuständigen Finanzbehörde eingereicht, wird die Anlaufhemmung erst beendet, wenn das zuständige FA die Erklärung erhält, da es erst dann in der Lage ist, die Veranlagung fristgerecht durchzuführen.
Verletzung der finanzamtlichen Fürsorgepflicht
Im Streitfall liegen jedoch besondere Umstände vor. Denn das Finanzamt H hat seine Fürsorgepflicht (§ 89 Abs. 1 AO) gegenüber dem X schwerwiegend verletzt, indem es die am 19.10.2011 bei ihm eingereichte ESt-Erklärung zu den Akten genommen hat, ohne sie zeitnah an das bekanntermaßen zuständige FA A weiterzuleiten oder den X zumindest über die unterbliebene Weiterleitung zu informieren. Die Pflichtverletzung ist gravierend, zumal das FA H in der Ablehnung der von X begehrten Fristverlängerung für die Abgabe der ESt-Erklärung am 19.09.2011 selbst den Anschein seiner Zuständigkeit erweckt hatte.
Keine Benachteiligung durch den Fehler des FA
Bei einem Verstoß gegen die Fürsorgepflicht ist der Steuerpflichtige (im Rahmen des rechtlich Zulässigen) so zu stellen, als wäre der Verstoß nicht passiert (BFH v. 27.2.2007, III B 158/06, BFH/NV 2007, S. 1090; BFH v. 24.5.2012, III R 95/08, BFH/NV 2012, S. 1658). Demnach ist der X so zu behandeln, als habe das FA H die ESt-Erklärung 2010 im Zuge eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs (und damit noch im Oktober 2011) an das FA A weitergeleitet und dieses damit in die Lage versetzt, die ESt-Veranlagung für das Streitjahr durchzuführen. Dies hat zur Folge, dass die vierjährige Festsetzungsfrist mit Ablauf des 31.12.2011 begonnen hat und am 31.12.2015 abgelaufen ist, so dass die streitigen Einkünfte aus selbständiger Arbeit sowie die Leibrenten und Versorgungsaufwendungen im ESt-Bescheid 2010 vom 6.10.2016 nicht mehr erfasst werden durften.
Hinweis: Risiko der rechtzeitigen Weiterleitung
Der Verstoß gegen die Fürsorgepflicht ist nicht etwa deshalb unbeachtlich, weil dem X vorzuwerfen ist, die ESt-Erklärung beim unzuständigen FA H abgegeben zu haben. Dieser Fehler des X hat zwar zur Folge, dass er das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung der Erklärung an die zuständige Behörde zu tragen hat und ihn somit das Risiko einer verzögerten Weiterleitung an die zuständige Behörde trifft. Das gravierende Fehlverhalten des FA H überlagert jedoch den Fehler des X. Denn durch das schlichte "zur Akte nehmen" der Steuererklärung hat das FA H nicht nur die ordnungsgemäße Weiterleitung an das zuständige FA A unterlassen, sondern auch ein den Fehler korrigierendes Handeln des X verhindert.
BFH Urteil vom 14.12.2021 - VIII R 31/19 (veröffentlicht am 19.05.2022)
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