Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorläufiger Rechtsschutz wegen Billigkeitsmaßnahme
Leitsatz (NV)
Im Rechtsbehelfsverfahren wegen einer Billigkeitsmaßnahme (hier: abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen) kommt vorläufiger Rechtsschutz im Wege einer einstweiligen Anordnung, nicht aber im Wege der Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids in Betracht.
Normenkette
AO 1977 §§ 163, 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 351 Abs. 2; FGO §§ 42, 69 Abs. 2-3, § 114
Verfahrensgang
FG des Landes Brandenburg |
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) ist im Baugewerbe tätig. Im ersten Halbjahr 1990 schloß sie mit mehreren Auftraggebern, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt waren, Verträge über auszuführende Bauleistungen. Regelungen hinsichtlich Umsatzsteuer enthielten diese Verträge nicht. Die Antragstellerin stellte die Bauleistungen nach dem 1. Juli 1990 fertig. Sie erfaßte die Umsätze in ihren Umsatzsteuervoranmeldungen Juli bis Dezember 1990 und in ihrer Umsatzsteuererklärung 1990 nicht.
Anläßlich einer bei der Antragstellerin durchgeführten Außenprüfung stellte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt -- FA --) diesen Sachverhalt fest. Das FA sah die von der Antragstellerin im zweiten Halbjahr 1990 ausgeführten Leistungen in Höhe von ... DM, die auf im ersten Halbjahr 1990 geschlossenen Verträgen beruhten, als nach dem Umsatzsteuergesetz vom 22. Juni 1990 (Gesetzblatt der DDR, Sonderdruck Nr. 1432 vom 27. Juni 1990) -- UStG DDR 1990 -- umsatzsteuerpflichtig an.
Den Antrag der Antragstellerin, die auf diese Umsätze entfallende Umsatzsteuer in Höhe von ... DM aus Billigkeitsgründen im Wege der abweichenden Steuerfestsetzung nach § 163 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht zu erheben, lehnte das FA mit Bescheid vom 7. November 1994 ab. Hiergegen hat die Antragstellerin nach erfolglosem Beschwerdeverfahren Klage erhoben, über die bislang noch nicht entschieden wurde.
Durch Umsatzsteueränderungsbescheid vom 1. Dezember 1994 setzte das FA die Umsatzsteuer 1990 entsprechend den Feststellungen der Außenprüfung fest. Hiergegen legte die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 5. Dezember 1994 Einspruch ein und beantragte gleichzeitig, die Vollziehung des angefochtenen Bescheids in Höhe von ... DM auszusetzen, da erhebliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestünden. Zur Begründung verwies die Antragstellerin auf ihre Beschwerde gegen die Ablehnung der abweichenden Steuerfestsetzung. Das FA hat bislang über den Einspruch noch nicht entschieden.
Mit Schriftsatz vom 22. August 1995 beantragte die Antragstellerin beim Finanz gericht (FG), "die vom Finanzamt angeforderte Umsatzsteuer in Höhe von ... DM für Umsätze, die nach dem 1. 7. 1990 aufgrund von Verträgen, die vor dem 30. 6. 1990 abgeschlossen wurden, ... auszusetzen".
Das FG gab dem Antrag statt und setzte die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1990 im beantragten Umfang aus. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, es sei ernstlich zweifelhaft, ob das FA die Umsatzsteuer 1990 so habe festsetzen dürfen, wie dies durch den angefochtenen Umsatzsteuerbescheid erfolgt sei. Es spräche viel dafür, daß eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO 1977 die einzig sachgerechte Ermessensentscheidung des FA gewesen sei.
Seine vom FG zugelassene Beschwerde begründet das FA damit, daß das FG zu Unrecht eine abweichende Steuerfestsetzung für geboten gehalten habe.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben, hilfsweise, Aussetzung der Vollziehung nur gegen Sicherheitsleistung zu gewähren.
Die Antragstellerin ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Die Beschwerde ist begründet. Die Vorentscheidung wird aufgehoben und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1990 abgelehnt.
1. Der Antrag der Antragstellerin vom 22. August 1995 ist als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1990 vom 1. Dezember 1994 anzusehen. Hiervon ist auch das FG in seiner Entscheidung ausgegangen. Zur Begründung des Antrags verweist die Antragstellerin darauf, die Oberfinanzdirektion habe ihren Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1990 abgelehnt. Im Betreff des Antrags nennt sie zudem Absatz 7 des § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO), wonach das Gericht angerufen werden kann, wenn die Behörde die Aussetzung der Vollziehung ablehnt. Hieraus ergibt sich, daß die Antragstellerin mit ihrem an das FG gerichteten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der "angeforderten Umsatzsteuer" die von ihr beantragte und von der Finanzverwaltung nicht gewährte Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1990 begehrt.
2. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen. Einstweiliger Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung soll gewährt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 Sätze 1, 3 i. V. m. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO). Auch eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte kommt nur in Betracht, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids bestehen (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 19. April 1968 IV B 3/66, BFHE 92, 314, BStBl II 1968, 538 unter B. IV. 2.; vom 21. Dezember 1967 V B 26/67, BFHE 90, 318, BStBl II 1968, 84).
a) Im Streitfall sind Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids 1990 ausgeschlossen. Die von der Antragstellerin nach dem 1. Juli 1990 erbrachten Lieferungen und Leistungen unterlagen gemäß den Vorschriften des hierfür geltenden UStG DDR 1990 der Umsatzsteuer. Dieses steht auch für die Antragstellerin außer Zweifel.
b) Die Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheids 1990 würde auch nicht dadurch berührt, wenn die Antragstellerin -- wie das FG meint -- ernsthaft mit der Möglichkeit anderweitiger Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 rechnen könnte.
aa) Die Finanzbehörde entscheidet über einen Antrag auf abweichende Festsetzung der Umsatzsteuerschuld nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 durch einen gegenüber der Steuerfestsetzung rechtlich selbständigen Verwaltungsakt (vgl. BFH-Urteile vom 11. Dezember 1986 V R 167/81, BFHE 148, 551, BStBl II 1987, 313 unter II. 4., und vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 163 AO 1977 Tz. 7). Wird die Billigkeitsmaßnahme nach der Steuerfestsetzung zugelassen, muß diese nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geändert oder aufgehoben werden. Der Verwaltungsakt, der die Billigkeitsmaßnahme zuläßt, ist wegen seiner Bindungswirkung ein Grundlagenbescheid i. S. von § 171 Abs. 10 AO 1977. Die Rechtmäßigkeit des Steuerfestsetzungsbescheids darf der Steuerpflichtige nicht mit Einwendungen gegen den Grundlagenbescheid angreifen (§ 351 Abs. 2 AO 1977, § 42 FGO). Vielmehr muß er dafür -- wie im Streitfall geschehen -- das für die Anfechtung des Grundlagenbescheids nach § 163 Abs. 1 AO 1977 vorgesehene Beschwerdeverfahren (vgl. § 348 Abs. 1 Nr. 2 a. E., § 349 Abs. 1 AO 1977 a. F.) durchführen (vgl. BFH-Urteil vom 12. Juni 1986 V R 75/78, BFHE 146, 569, BStBl II 1986, 721 unter II. 1.).
bb) Die Trennung der Entscheidungen im Billigkeits- und Steuerfestsetzungsverfahren hat auch Folgen für den einstweiligen Rechtsschutz, der für Grundlagen- und Folgebescheide regelmäßig in einem selbständigen Verfahren gewährleistet wird. Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids kommt lediglich bei Zweifeln an seiner Rechtmäßigkeit in Frage. Wegen abweichender Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen käme allenfalls eine einstweilige Anordnung nach § 114 FGO in Betracht (BFH-Beschluß vom 25. Januar 1983 VII B 84/82, nicht veröffentlicht; Sauer in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, AO 1977 § 163 Rz. 86; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung, 17. Aufl., § 227 AO Bem. 8 d). Eine derartige Anordnung kann in dem angefochtenen Beschluß nicht gesehen werden; mangels Andeutung eines Anordnungsgrundes kann der auf § 69 FGO gestützte Beschluß auch nicht in einen Beschluß gemäß § 114 FGO umgedeutet werden.
Fundstellen