Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwirkung der Klagebefugnis
Leitsatz (NV)
Auch bei wirkungsloser Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung entfällt die Befugnis, Klage vor dem FG zu erheben, nach Ablauf eines Jahres von dem Zeitpunkt an, in dem bei fehlerhafter Bekanntgabe die Klagefrist begonnen hätte.
Normenkette
FGO § 47
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Ehefrau betrieb ein Kinderheim. Nach einer Betriebsprüfung ergingen gegen die Kläger berichtigte Einkommensteuerbescheide für 1976 bis 1978. Hierbei waren die von den Jugendbehörden gewährten Pflegegelder als Betriebseinnahmen angesetzt worden. Der Einspruch der Kläger wurde vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -) zurückgewiesen. Die Einspruchsentscheidung wurde dem damaligen Bevollmächtigten der Kläger am 26. November 1982 durch die Post zugestellt.
Gegen diese Entscheidung erhoben die Eheleute am 7. November 1984 Klage. Sie hielten die Zustellung für unwirksam, weil der Postbedienstete auf dem zugestellten Brief keinen Zustellvermerk angebracht habe. In der Sache machten sie geltend, daß nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. Juni 1984 IV R 49/83 (BFHE 141, 154, BStBl II 1984, 571) die von den Jugendbehörden gezahlten Pflege- und Erziehungsgelder nicht als Betriebseinnahmen anzusetzen seien. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab, weil die Kläger ihre Klagebefugnis verwirkt hätten. Die Kläger hatten auch beantragt, ihnen für das Verfahren vor dem FG Prozeßkostenhilfe zu gewähren; diesen Antrag hat das FG mit der Zustellung des Urteils ebenfalls zurückgewiesen.
Hiergegen haben die Kläger Beschwerde erhoben und unter Hinweis auf die in der Hauptsache gleichzeitig eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vorgetragen, daß das FG zu Unrecht von einer Verwirkung des Klagerechts ausgegangen sei.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig. Nach § 142 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 127 Abs. 2 Satz 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) findet gegen ablehnende Entscheidungen über die Prozeßkostenhilfe die Beschwerde statt, ,,es sei denn, daß das Berufungsgericht die Entscheidung getroffen hat". Aus dieser Regelung wird entnommen, daß die Beschwerde in einer Prozeßkostenhilfesache nicht an diejenige Instanz gerichtet werden kann, an die die zugehörige Hauptsache nicht kommen kann. Deshalb ist die Prozeßkostenhilfebeschwerde an den BFH nicht gegeben, wenn die zugehörige Hauptsache nicht an das Revisionsgericht gelangen kann (BFH-Beschluß vom 14. Mai 1982 VIII B 1/82, BFHE 136, 53, BStBl II 1982, 600). Diese Möglichkeit bestand vorliegend jedoch, weil sich der BFH jedenfalls nach Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO mit der Hauptsache beschäftigen konnte; daß die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg erhoben worden ist, wird nicht verlangt (vgl. BFH-Beschluß vom 7. August 1984 VII B 27/84, BFHE 141, 494, BStBl II 1984, 838).
Da die Kläger Prozeßkostenhilfe zeitlich vor der Entscheidung des FG beantragt haben, konnte ihnen dieses die begehrte Hilfe auch noch nach Abschluß des Verfahrens mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung gewähren; infolgedessen ist auch unerheblich, daß das FG über den Antrag so spät entschieden hat, daß die Kläger nicht vor Abschluß der Instanz Beschwerde einlegen konnten (vgl. BFHE 141, 494, BStBl II 1984, 838).
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das FG hat die Ablehnung des Prozeßkostenhilfeantrags allein mit dem Hinweis auf die in der Hauptsache ergangene Entscheidung begründet. Dies ist zwar nicht ausreichend. Nach § 142 Abs. 1 FGO i.V.m. § 114 ZPO ist Prozeßkostenhilfe auf Antrag zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint und wenn der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann. Die Rechtsverfolgung verspricht hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn dafür bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn die Klage im Ergebnis erfolglos blieb (BFH-Beschluß vom 25. März 1986 III B 5-6/86, BFHE 146, 223, BStBl II 1986, 526). Der Senat hat demnach zu prüfen, ob die von den Klägern beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 114 ZPO versprach. Diese Prüfung fällt jedoch zuungunsten der Kläger aus.
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, daß die Befugnis zur Anrufung der Gerichte im Einzelfall der prozeßrechtlichen Verwirkung unterliegen kann (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 26. Januar 1972 2 BvR 255/67, BVerfGE 32, 305; Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 29. Juni 1972 2 RU 62/70, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1972, 2103; Urteil des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 2. November 1961 2 AZR 66/71, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 1 zu § 242 BGB ,,Prozeßverwirkung"; BFH-Entscheidungen vom 14. Juni 1972 II 149/65, BFHE 106, 134; vom 18. Dezember 1974 I R 14/74, BFHE 115, 170, BStBl II 1975, 592; vom 3. Dezember 1975 I R 144/74, BFHE 117, 350, BStBl II 1976, 194; vom 5. Februar 1985 VII R 173/82, BFH/NV 1986, 29). Danach verstößt die verspätete Geltendmachung einer prozessualen Befugnis gegen Treu und Glauben, wenn der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung der eigenen Rechtsposition unternommen zu werden pflegt. Unter dieser Voraussetzung können die übrigen Prozeßbeteiligten und die zuständigen Gerichte davon ausgehen, daß nach Ablauf eines Jahres von dem Zeitpunkt an, in dem bei fehlerfreier Bekanntgabe die Klagefrist begonnen hätte, die Klagebefugnis nicht mehr geltend gemacht werden soll. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall bei summarischer Prüfung erfüllt, weil die Kläger - den Zustellungsmangel unterstellt - die Einspruchsentscheidung des FA erst nach Ablauf von fast zwei Jahren angegriffen haben. Sie können sich nicht darauf berufen, daß die Rechtsverfolgung erst nach Bekanntwerden der Entscheidung in BFHE 141, 154, BStBl II 1984, 571 Erfolg versprochen habe; vielmehr war zu verlangen und zu erwarten, daß die Kläger ihre Rechte aufgrund eigener Meinungsbildung wahrnahmen. Die angegebene Entscheidung des Senats betrifft Pflege- und Erziehungsgelder, die für ein Pflegekind gewährt wurden; ob die Verhältnisse der Kläger damit vergleichbar waren, kann offenbleiben.
Fundstellen
Haufe-Index 415281 |
BFH/NV 1988, 244 |