Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs infolge unterlassener Schriftsatzübersendung/-übergabe
Leitsatz (NV)
1. Die Pflicht des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs erfordert es u.a., entscheidungserhebliche Fakten und Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen und diese auch dem jeweils anderen Beteiligten zur Kenntnis zu geben. Die unterlassene Übersendung oder Übergabe (in der mündlichen Verhandlung) eines entsprechenden Schriftsatzes verletzt daher grundsätzlich das rechtliche Gehör.
2. Zwar wurde laut Sitzungsprotokoll die "Streitsache mit den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erörtert"; dem Sitzungsprotokoll ist aber nicht zu entnehmen, dass dem Sitzungsvertreter des FA der betreffende Schriftsatz (als Zweitschrift oder Kopie) übergeben wurde oder dass etwa dieser Schriftsatz zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 77 Abs. 1 S. 4, §§ 94, 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 2, § 116 Abs. 6; ZPO § 165
Verfahrensgang
FG Köln (Urteil vom 20.02.2003; Aktenzeichen 10 K 4306/99) |
Gründe
Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht --FG-- (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO; denn das FG hat das rechtliche Gehör des Beklagten und Beschwerdeführers (Finanzamt --FA--) wegen unterlassener Übersendung oder Übergabe eines Schriftsatzes verletzt.
Die Pflicht des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. § 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) erfordert es u.a., entscheidungserhebliche Fakten und Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl. 2002, § 96 Rz. 28; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 96 FGO Tz. 123) und diese auch dem jeweils anderen Beteiligten zur Kenntnis zu geben (§ 77 Abs. 1 Satz 4 FGO). Die unterlassene Übersendung oder Übergabe eines entsprechenden Schriftsatzes (in der mündlichen Verhandlung) verletzt daher grundsätzlich das rechtliche Gehör (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18. Juli 1985 VI B 123/84, BFH/NV 1986, 166; vom 19. November 2003 I R 41/02, BFH/NV 2004, 604, unter II. 2.; Gräber/Koch, a.a.O., § 77 Rz. 5; Dürr, in Schwarz, Finanzgerichtsordnung, § 77 Rz. 4); insbesondere muss den Beteiligten rechtzeitig und ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (vgl. Dürr, in Schwarz, a.a.O., § 77 Rz. 4; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 96 FGO Rz. 242). Das ist nicht in erforderlichem Umfang geschehen.
Das FG hatte den (11-seitigen) Schriftsatz der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) vom 19. Februar 2003 mit dem Vermerk "EILT (bitte sofort vorlegen)" unter gleichem Datum als Fax erhalten. Diesem war zu entnehmen, dass dieser Schriftsatz auch dem FA zugefaxt worden ist. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass "von Seiten des Klägervertreters alles Zumutbare unternommen wurde, einen rechtzeitigen Zugang des Schriftstücks sicherzustellen". Gleichwohl ist es vornehmlich Aufgabe des FG (und nicht nur der Beteiligten), die verfahrensrechtlich gebotene Kenntnisnahme entscheidungserheblicher Unterlagen für den jeweils anderen Beteiligten sicherzustellen, insbesondere wenn die mündliche Verhandlung am Tag darauf --wie hier am 20. Februar 2003-- ansteht.
Das ist im Streitfall unterblieben. So ist der Verfügungsaufdruck auf der Rückseite der Seite 11 des Fax-Schriftsatzes vom 19. Februar 2003 nicht ausgefüllt und damit eine Übersendung an das FA nicht erkennbar von Seiten des FG ausgeführt; auch ergibt sich aus den Akten nicht, dass sich das FG beim FA über den Zugang des Schriftsatzes als Fax erkundigt hat. Zwar wurde laut Sitzungsprotokoll (zu dessen Beweiskraft s. § 94 FGO i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung --ZPO--, und BFH-Beschlüsse vom 19. Dezember 2000 IX R 29/00, BFH/NV 2001, 638; vom 15. April 2003 X B 20/03, BFH/NV 2003, 1085) die "Streitsache mit den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erörtert"; dem Sitzungsprotokoll ist aber nicht zu entnehmen, dass dem (vorher angekündigt erst später erschienenen) Sitzungsvertreter des FA der betreffende Schriftsatz (als Zweitschrift oder Kopie) übergeben wurde oder dass etwa dieser Schriftsatz zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde. Auch ist nicht ersichtlich, dass sich der Vorsitzende des FG in sonstiger Weise über die Kenntnisnahme des FA von dem betreffenden Schriftsatz vergewissert hat. Angesichts der Länge des Schriftsatzes (11 Seiten) und der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nach dem Erscheinen des Sitzungsvertreters des FA für die Erörterung verbliebenen (kurzen) Zeit kann von einer hinreichenden Gewährung rechtlichen Gehörs gegenüber dem FA nicht ausgegangen werden. Dies umso mehr, als das Sitzungsprotokoll keine klare Aussage dazu trifft, ob der Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten durch den Berichterstatter des FG vor oder zusätzlich auch (was ohne entsprechenden, im Sitzungsprotokoll aber nicht dokumentierten Verzicht des FA-Vertreters darauf erforderlich gewesen wäre) nach dessen Erscheinen stattgefunden hat. Unter den gegebenen Umständen bedurfte es auch nicht der sofortigen Rüge in der mündlichen Verhandlung.
Fundstellen
Haufe-Index 1343226 |
BFH/NV 2005, 1128 |
AO-StB 2005, 195 |