Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht eines Beteiligten auf die Öffentlichkeit des Verfahrens
Leitsatz (amtlich)
Auf die Befolgung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des finanzgerichtlichen Verfahrens kann ein Beteiligter wirksam verzichten (Anschluß an BVerwG-Beschluß vom 4.November 1977 IV C 71/77, HFR 1978, 174).
Orientierungssatz
1. Wird der Verstoß gegen solche Vorschriften des Prozeßrechts gerügt, auf deren Beachtung die Beteiligten verzichten können, so ist die durch § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO vorgeschriebene Form der Begründung nur erfüllt, wenn auch vorgetragen worden ist, daß der Verstoß in der Vorinstanz gerügt worden ist (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. In den Fällen der zulassungsfreien Revision ist das Revisionsgericht auf eine Prüfung der Verfahrensmängel im Sinne des § 116 Abs. 1 FGO beschränkt (vgl. Literatur).
Normenkette
FGO § 62; GVG § 169; ZPO § 295 Abs. 2; FGO § 116 Abs. 1, § 120 Abs. 2 S. 2
Gründe
Gründe
Das Finanzgericht (FG) hat die Klagen abgewiesen, ohne jeweils die Revision zuzulassen. Die Revisionen werden miteinander verbunden. Sie sind unzulässig.
1. Gemäß Art.1 Nr.5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) findet abweichend von § 115 Abs.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Revision nur statt, wenn sie das FG oder auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof (BFH) zugelassen hat oder wenn ein Fall der zulassungsfreien Revision gemäß § 116 FGO gegeben ist. Hierauf wurden die Kläger und Revisionskläger (Kläger) durch die den angefochtenen Vorentscheidungen beigefügten Rechtsmittelbelehrungen ausdrücklich hingewiesen.
Die Beschwerden wegen Nichtzulassung der Revisionen hat der erkennende Senat durch Beschlüsse vom heutigen Tage X B 87/90 und X B 88/90 als unzulässig verworfen.
2. Zwar kann mit der zulassungsfreien Revision gerügt werden, daß das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind (§ 116 Abs.1 Nr.4 FGO). Ein solcher Verfahrensmangel ist hier nicht schlüssig gerügt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die zur Begründung des Verfahrensmangels vorgetragenen Tatsachen ―ihre Richtigkeit unterstellt― einen Mangel im Sinne von § 116 Abs.1 FGO ergeben würden (§ 120 Abs.2 Satz 2 FGO; vgl. BFH-Beschluß vom 21.April 1986 IV R 190/85, BFHE 146, 357, BStBl II 1986, 568). Wird der Verstoß gegen Vorschriften des Prozeßrechts gerügt, auf deren Beachtung die Beteiligten verzichten können (§ 155 FGO i.V.m. § 295 Abs.1 der Zivilprozeßordnung ―ZPO―), muß außerdem vorgetragen werden, daß der Verstoß in der Vorinstanz gerügt wurde (BFH-Urteile vom 26.Februar 1985 VII R 143/81, BFH/NV 1986, 100; vom 29.September 1988 V R 53/83, BFHE 154, 395, BStBl II 1988, 1022).
Die dem Gericht wegen Kenntnis oder verschuldeter Unkenntnis zurechenbare Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung (§ 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes ―GVG―, § 52 FGO) ist ein absoluter Revisionsgrund (Urteil des Senats vom 14.Dezember 1988 X R 34/82, BFH/NV 1989, 541, m.w.N.). Indes können die Prozeßbeteiligten auf die Beachtung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verzichten (Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 4.November 1977 IV C 71/77, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 1978, 174; vom 26.November 1985 4 CB 46.85, nicht veröffentlicht ―NV―; Zöller/Stephan, Zivilprozeßordnung, Kommentar, 15.Aufl. 1987, § 295 Anm.5; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl. 1987, § 115 Anm.37). Soweit zu anderen Gerichtsverfahrensordnungen eine strengere Auffassung vertreten wird (z.B. Hanack in Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, 24.Aufl. 1986, § 337 StPO Rdnr.271), ist darauf hinzuweisen, daß das Prinzip der Öffentlichkeit in der FGO abgeschwächt ist: Nach § 90 Abs.2 FGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden; die Öffentlichkeit ist auszuschließen, wenn ein Beteiligter, der nicht Finanzbehörde ist, es beantragt (§ 52 Abs.2 FGO).
Dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 23.November 1989 ist nur zu entnehmen, daß der Prozeßbevollmächtigte der Kläger zur Sache verhandelt hat; eine Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung ist nicht gerügt worden. Im Protokollberichtigungsantrag vom 2.Februar 1990 haben die Kläger vorgetragen, bereits zu Sitzungsbeginn sei durch die Leuchtanzeige neben der Eingangstür des Sitzungssaals angezeigt worden, daß die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Entsprach dies den Tatsachen, hätten die Kläger den Mangel rügen können und rügen müssen. Mit der Revisionsbegründung haben sie nicht vorgetragen, daß sie dies getan hätten. Damit entspricht die Revisionsrüge nicht den Anforderungen des § 120 Abs.2 Satz 2 FGO.
3. In den Fällen der zulassungsfreien Verfahrensrevision ist das Revisionsgericht auf eine Prüfung der Verfahrensmängel im Sinne des § 116 Abs.1 FGO beschränkt (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 116 FGO Rz.9). Die Rüge, das Protokoll über die mündliche Verhandlung sei unvollständig, ist unzulässig.
Fundstellen
Haufe-Index 63461 |
BFH/NV 1990, 85 |
BStBl II 1990, 1032 |
BFHE 161, 427 |
BFHE 1991, 427 |
BB 1990, 2255 (L) |
DB 1990, 2407 (T) |
HFR 1991, 156 (LT) |
StE 1990, 412 (K) |