Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens
Leitsatz (NV)
1. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach §613 AO 1977 hat grundsätzlich rechtlichen Einfluß auf die Entscheidung über die Anfechtung eines Steuerbescheides und ermöglicht die Aussetzung des Verfahrens gemäß §74 FGO.
2. Sind die für eine Ermessensentscheidung erforderlichen Grundlagen bis zur Beschwerdeentscheidung nicht festgestellt worden, erscheint es zweckmäßig, daß das FG dies nachholt und die Ermessensentscheidung über die Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens selber trifft.
Normenkette
AO 1977 §§ 163, 175 Abs. 1 Nr. 1; FGO §§ 74, 155; ZPO § 155
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Beschwerdeführer (Beschwerdeführer) waren Mitglieder einer Bauherrengemeinschaft. Im Ausgangsverfahren begehrten sie die sofortige Abziehbarkeit von Aufwendungen als Werbungs kosten im Rahmen der gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Jahre 1980 und 1981.
Während des Klageverfahrens begehrten die Beschwerdeführer eine abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen gemäß §163 der Abgabenordnung (AO 1977). Auf den übereinstimmenden Antrag der Beteiligten setzte das Finanzgericht (FG) das Verfahren gemäß §74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus, bis über den Antrag der Beschwerdeführer nach §163 AO 1977 entschieden worden sei.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) lehnte den Antrag auf abweichende Festsetzung ab. Nachdem die Oberfinanzdirektion die hiergegen eingelegte Beschwerde durch Entscheidung vom 17. März 1992 zurückgewiesen hatte, erhoben die Beschwerdeführer hiergegen Klage, über die noch nicht entschieden ist.
Mit Schreiben vom 3. November 1995 wies das FG die Beteiligten darauf hin, daß es beabsichtige, die Aussetzung des Verfahrens aufzuheben. Eine konkrete Vorgreiflichkeit einer Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführer nach §163 AO 1977 sei nicht mehr zu erkennen. Zum einen habe das FA das entsprechende Begehren der Beschwerdeführer endgültig abgelehnt, zum anderen lasse sich eine tatsächliche Vor rangigkeit des Verfahrens über die abweichende Festsetzung der Steuern aus Billigkeitsgründen gegenüber dem vorliegenden Verfahren nicht herleiten.
Mit Beschluß vom 19. Dezember 1995 hob das FG die am 13. Juni 1991 beschlossene Aussetzung des Verfahrens unter Hinweis auf das Anhörungsschreiben vom 3. November 1995 auf. Hiergegen legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein. An den Voraussetzungen des Aussetzungsbeschlusses habe sich nichts geändert, da über den Antrag nach §163 AO 1977 bisher noch nicht rechtskräftig entschieden sei.
Erst am 12. Dezember 1996 beschloß das FG, der Beschwerde nicht abzuhelfen. Die Aussetzung sei bis zur Entscheidung über den Billigkeitsantrag der Beschwerdeführer befristet. Diese liege in Gestalt des Ablehnungsbescheides des FA vor. Im übrigen sei fraglich, ob die Voraussetzungen einer Aussetzung des Verfahrens nach §74 FGO im Zeitpunkt des Beschlusses am 13. Juni 1991 überhaupt gegeben gewesen seien. Die Entscheidung über die Anfechtungsklage sei nicht abhängig von jener über den Billigkeitsantrag.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§§132, 155 FGO i. V. m. §575 der Zivilprozeßordnung -- ZPO --). Das FG ist bei seiner Entscheidung von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen.
1. Das FG kann nach §155 FGO i. V. m. §150 ZPO eine von ihm angeordnete Aussetzung des Verfahrens wieder aufheben. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die rechtlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens gemäß §74 FGO nicht oder nicht mehr vorliegen, oder wenn das FG von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten im Rahmen einer Ermessensentscheidung sich zur Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses entschließt.
Die angefochtene Vorentscheidung erweist sich als fehlerhaft, weil das FG von unzutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist und daher keine Ermessensentscheidung über die Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens getroffen hat.
a) Voraussetzung für die Aussetzung des Verfahrens gemäß §74 FGO ist, daß die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Entgegen der Auffassung des FG ist ein Verfahren über einen Antrag auf Billigkeitsmaßnahmen nach §163 AO 1977 gegenüber dem Festsetzungsbescheid vorgreiflich.
Bei einer Entscheidung i. S. von §163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 handelt es sich um einen Akt der Steuerfestsetzung. Der Verwaltungsakt über eine Billigkeitsmaß nahme nach §163 AO 1977 ist ein Grundlagenbescheid für den Festsetzungsbescheid (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. Dezember 1987 V S 9/85, BStBl II 1988, 702; vom 31. August 1987 V B 57/86, BFH/NV 1988, 174; Urteile vom 26. Februar 1991 IX R 95/88, BFHE 163, 562, BStBl II 1992, 572; vom 8. September 1993 I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81; vom 14. Juli 1992 V R 91/85, BFH/NV 1995, 836; Beschluß vom 26. Februar 1996 V B 81/95, BFH/NV 1996, 571). Zwar bilden die abweichende Festsetzung und die Steuerfestsetzung zwei in getrennten Verfahren ergehende selbständige Verwaltungsakte. Folgt die Billigkeitsmaßnahme der Steuerfestsetzung nach, so muß diese nach §175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geändert werden. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach §163 AO 1977 hat daher grundsätzlich rechtlichen Einfluß auf die Entscheidung über die Anfechtung eines Steuerbescheides und ermöglicht die Aussetzung des Verfahrens gemäß §74 FGO.
b) Dem FG kann auch nicht gefolgt werden, soweit es ausführt, daß eine Vorgreiflichkeit nach §163 AO 1977 nicht mehr zu erkennen sei, weil das FA das entsprechende Begehren der Beschwerdeführer endgültig abgelehnt habe.
Bis zur Rechtskraft der Entscheidung über den Antrag auf Billigkeitsmaßnahmen nach §163 AO 1977 ist das Verfahren gegenüber der Anfechtungsklage gegen den Steuerbescheid vorgreiflich. Insbesondere aus dem Tenor des Aussetzungsbeschlusses vom 13. Juni 1991 ergibt sich keine Befristung bis zur Entscheidung des FA. In der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 1991 haben die Beteiligten übereinstimmend beantragt, das Klageverfahren "bis zur Rechtskraft der Entscheidung über den Billigkeitsantrag nach §163 AO" auszusetzen. Die Beteiligten durften den Beschluß des FG vom 13. Juni 1991 daher dahingehend verstehen, daß das Verfahren gemäß §74 FGO bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem Verfahren über die Billigkeitsmaßnahme ausgesetzt worden ist.
c) Zwar ist das FG nicht verpflichtet, das Klageverfahren im Hinblick auf einen Antrag auf abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen auszusetzen oder von einer Aufhebung der Aussetzungsentscheidung abzusehen (BFH in BFH/NV 1996, 571). Das FG muß in diesen Fällen aber eine Ermessensentscheidung treffen. Eine solche Ermessensabwägung ist dem angefochtenen Beschluß jedoch nicht zu entnehmen.
2. Der Senat macht von der auch im Beschwerdeverfahren möglichen Zurückverweisung Gebrauch (vgl. BFH-Entscheidungen vom 15. Februar 1967 IV B 18/66, BFHE 87, 502, BStBl III 1967, 181; vom 26. März 1980 I B 11/80, BFHE 130, 17, BStBl 1980, 334; vom 28. Oktober 1981 I B 69/80, BFHE 134, 239, BStBl II 1982, 135; vom 30. November 1993 VII B 52/93, BFH/NV 1994, 735; vom 18. August 1993 II B 39/92, BFH/NV 1994, 257; vom 25. Oktober 1995 VIII B 79/95, BFHE 179, 207, BStBl II 1996, 316), weil es zweckmäßig erscheint, daß das sachnähere FG die zur Zeit fehlende Spruchreife herbeiführt.
a) Ebenso wie die Aussetzung des Verfahrens ist auch die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses eine Ermessensentscheidung, bei der insbesondere prozeßökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten abzuwägen sind (vgl. BFH-Urteile vom 18. Juli 1990 I R 12/90, BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986; in BFH/NV 1995, 836; Beschluß in BFH/NV 1996, 571). Bei der Abwägung prozeßökonomischer Gesichtspunkte kann eine Rolle spielen, daß der Streitgegenstand des Verfahrens, das ausgesetzt werden soll, und der des Verfahrens, dessentwegen ausgesetzt werden soll, ein Verhältnis zueinander aufweisen, wie es zwischen Folgebescheid und Grundlagenbescheid gegeben ist (BFH-Beschluß in BStBl II 1988, 702). Das Ver fahren über einen Folgebescheid ist in der Regel auszusetzen, um den Erlaß eines Grundlagenbescheides herbeizuführen (BFH-Urteil in BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81). In den Fällen eines Antrags auf Billigkeitsmaßnahmen nach §163 AO 1977 ist aber auch zu berücksichtigen, wann der entsprechende Antrag bei dem FA gestellt worden ist (vgl. BFH-Beschluß vom 21. September 1994 IV B 95/93, BFH/NV 1995, 325) und in welchem Stand sich das Verfahren befindet. In der Ermessensentscheidung über die Aussetzung des Verfahrens ist weiter zu berücksichtigen, ob ein Interesse der Beteiligten an der Aussetzung besteht (vgl. BFH-Urteil in BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986).
b) Das FG hat bisher seine Entscheidung über die Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens damit begründet, daß eine Vorgreiflichkeit einer Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführer nach §163 AO 1977 nicht bestehe. Die für eine Ermessensentscheidung erforderlichen Grundlagen sind bisher nicht festgestellt worden. Es erscheint zweckmäßig, daß das FG unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats dies nachholt und die Ermessensentscheidung über die Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens selber trifft.
3. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da es sich im vorliegenden Fall um ein unselbständiges Zwischenverfahren handelt, das von der Kostenentscheidung im Rahmen der endgültigen Streitentscheidung mit erfaßt wird (vgl. BFH-Beschluß vom 9. April 1991 VII B 217/90, BFH/NV 1992, 136, m. w. N.).
Fundstellen
Haufe-Index 67011 |
BFH/NV 1998, 201 |