Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtvertretensein bei irrtümlicher Annahme eines Verzichts auf mündliche Verhandlung sowie bei Mißachtung eines Antrags auf mündliche Verhandlung
Leitsatz (NV)
1. Ein Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO ist auch anzunehmen, wenn das FG irrtümlich von einem Verzicht auf mündliche Verhandlung ausgegangen ist und unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO durch Urteil entschieden hat.
2. Die Verzichts-(Einverständnis-)Erklärung nach § 90 Abs. 2 FGO ist eine einseitige, gestaltende Prozeßhandlung. Sie muß ausdrücklich, klar und eindeutig abgegeben werden. Das bloße Schweigen auf eine gerichtliche Ankündigung, es sei beabsichtigt, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
3. Zum Nichtvertretensein, wenn das FG im Anwendungsbereich des Art. 3 § 5 VGFGEntlG übersehen hat, daß ein Beteiligter die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt hatte.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 1-2, § 116 Abs. 1 Nr. 3; VGFGEntlG Art. 3 § 5
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) begehrt in der Sache den Abzug von Unterhaltsaufwendungen, die er im Streitjahr (1983) für seine Schwiegermutter erbracht hat, als außergewöhnliche Belastung (§ 33 a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG -).
In der Klageschrift an das Finanzgericht (FG) ließ er durch seinen Prozeßbevollmächtigten einleitend ausführen:
,,Ich beabsichtige, in der mündlichen Verhandlung folgende Anträge zu stellen:
1. . . .".
Der Berichterstatter des FG übersandte dem Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 27. Januar 1986 eine abschließende Stellungnahme des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) zum Streitstand und stellte eine Äußerung dazu anheim. Im selben Schreiben wurde auch noch darauf hingewiesen, daß angesichts des unter 500 DM liegenden Streitwerts beabsichtigt sei, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
Das FG wies die Klage am 11. Juni 1986 - ohne daß noch ein weiterer Schriftwechsel stattgefunden hatte - als unbegründet ab. Es gab dabei im Rubrum des Urteils an, daß es ,,mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung" entschieden habe.
Der Kläger hat gegen das Urteil unmittelbar Revision eingelegt. Er trägt vor, daß sein Prozeßbevollmächtigter in der Klageschrift die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt habe. Über diesen Antrag habe sich das FG verfahrensfehlerhaft hinweggesetzt. Er, der Kläger, sei daher im finanzgerichtlichen Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 116 Abs. 1 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Der Kläger konnte - ungeachtet der Beschränkungen des Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) in der für den Streitfall geltenden Fassung - unmittelbar Revision einlegen. Er hat schlüssig vorgetragen, daß dem FG ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO unterlaufen sei, so daß es einer Zulassung zur Einlegung der Revision nicht bedurfte.
2. Das Rechtsmittel ist auch begründet.
a) Ein Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO ist nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) anzunehmen, wenn das FG irrtümlich von einem Verzicht auf mündliche Verhandlung ausgegangen ist und unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO durch Urteil entschieden hat (siehe aus jüngerer Zeit das Urteil vom 11. August 1987 IX R 135/83, BFHE 151, 297, BStBl II 1988, 141, mit weiteren Hinweisen). Das gleiche gilt nach Auffassung des IX. Senats des BFH, wenn das FG im Anwendungsbereich des Art. 3 § 5 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) übersehen hat, daß ein Beteiligter die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat (siehe auch hierzu das Urteil in BFHE 151, 297, BStBl II 1988, 141). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an.
b) Im Streitfall ist das FG - nach dem Rubrum der angefochtenen Entscheidung - von einem Verzicht der Beteiligten auf mündliche Verhandlung ausgegangen. Ein solcher lag jedoch weder von seiten des Klägers noch von seiten des FA vor. Das FA hat insoweit überhaupt keine Erklärung abgegeben. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hatte sich vorbehalten, seine Anträge in der mündlichen Verhandlung zu stellen; auf den späteren Hinweis des Berichterstatters des FG, es sei beabsichtigt, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, hat er geschwiegen. Daraus kann jedenfalls ein Verzicht des Klägers auf mündliche Verhandlung nicht hergeleitet werden.
Die Verzichts-(Einverständnis-)Erklärung nach § 90 Abs. 2 FGO ist eine einseitige, gestaltende Prozeßhandlung. Sie muß ausdrücklich, klar und eindeutig abgegeben werden (siehe dazu Koch in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 90 Anm. 9, mit weiteren Hinweisen; vgl. auch den BFH-Beschluß vom 9. Juni 1986 IX B 90/85, BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679). Das bloße Schweigen auf eine gerichtliche Ankündigung, es sei beabsichtigt, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
c) Der Senat neigt darüber hinaus zur Annahme, daß das FG auch durch Art. 3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG gehindert war, im Streitfall ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Erklärung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers in der Klageschrift, er beabsichtige, in der mündlichen Verhandlung bestimmte, näher bezeichnete Anträge zu stellen, ist bei verständiger Würdigung - wie im Fall des Beschlusses in BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679 - als eine noch hinreichend klare und eindeutige Prozeßerklärung des Inhalts zu verstehen, daß der Kläger die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wünsche. Daran ändert nach Auffassung des Senats auch der spätere Hinweis des Berichterstatters des FG nichts, daß beabsichtigt sei, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. In dieser bloßen Absichtserklärung kann insbesondere nicht die in BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679 gegebenenfalls für erforderlich gehaltene Rückfrage des FG gesehen werden. Dem Kläger war in dem betreffenden Schreiben vom 27. Januar 1986 eine Rückantwort nicht einmal ausdrücklich anheim gestellt worden.
d) Nach alledem hat das FG unzulässigerweise ohne mündliche Verhandlung entschieden. Sein Urteil muß wegen dieses Verfahrensfehlers aufgehoben werden (§§ 116 Abs. 1 Nr. 3 und 119 Nr. 4 FGO). Dem Senat ist es jedoch verwehrt, zur sachlich-rechtlichen Streitfrage Stellung zu nehmen (§ 118 Abs. 3 Satz 1 FGO; siehe hierzu auch Ruban in Gräber, a. a. O., § 116 Anm. 4). Die Sache war daher an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 416984 |
BFH/NV 1990, 793 |