Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen / offenbare Unrichtigkeit
Leitsatz (NV)
1. Im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 muß der Steuerpflichtige ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung seiner Steuererklärung in gleicher Weise vertreten wie das Verschulden eines Bevollmächtigten (Anschluß an BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324).
2. Grundsätzlich liegt keine offenbare Unrichtigkeit i. S. des § 129 AO 1977 vor, wenn das FA bei der Veranlagung Fehler in der Steuererklärung übernommen hat.
Normenkette
AO 1977 §§ 129, 173 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betreibt eine Trinkhalle. In seiner Umsatzsteuererklärung für das Jahr 1974 erklärte er mit dem Regelsteuersatz zu versteuernde Nettoumsätze in Höhe von 207 064 DM und mit dem ermäßigten Steuersatz zu versteuernde Nettoumsätze in Höhe von 41 819 DM. Laut ,,Anlage zur G. u. V." hingegen belief sich der Wareneinsatz der mit dem Steuersatz von 5,5 v. H. belasteten Waren auf 73 862 DM. Diese Abweichung ist darauf zurückzuführen, daß der damalige steuerliche Berater des Klägers, Steuerbevollmächtigter S, den Gesamtumsatz nach einem für die Vorjahre gültigen, durch die Entwicklung der betrieblichen Verhältnisse jedoch überholten Aufteilungsschlüssel aufgeteilt hatte.
Die Festsetzung der Umsatzsteuer 1974 (nach Erklärung 6 655 DM) wurde bestandskräftig. Anläßlich einer Außenprüfung stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) fest, daß die mit dem Steuersatz von 5,5 v. H. zu versteuernden Nettoerlöse 84 537 DM, die mit dem Regelsatz zu versteuernden Nettoerlöse 162 900 DM betrugen.
Eine Änderung des bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheides für 1974 zugunsten des Klägers lehnte das FA ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen.
Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts. Er trägt vor:
Entgegen der Auffassung des FA sei eine ,,Tatsache" i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) jedes Sachverhaltsmerkmal, an welches die Schätzung anknüpfe, also auch die hier streitige Aufteilung der Umsätze nach Steuersätzen. Bei der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 könne dem Steuerpflichtigen ein Verschulden seines Beraters mangels Rechtsgrundlage nicht zugerechnet werden. Der vom FG gegen den damaligen Berater erhobene Vorwurf des groben Verschuldens sei nicht berechtigt. In Anbetracht der Kompliziertheit des heutigen Steuerrechts sei es unvermeidlich, daß den Steuerpflichtigen - ebenso wie den Behörden - gelegentlich Fehler unterliefen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie der Verfügung vom 5. Januar 1978 und der Einspruchsentscheidung vom 2. Mai 1978 das FA zu verpflichten, unter Änderung des Umsatzsteuerbescheides vom 28. Januar 1976 die Umsatzsteuer für 1974 auf 4 486,45 DM herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Das FG hat die Ablehnung der beantragten Änderung zu Recht gebilligt.
Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen und Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.
Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, 210, BStBl II 1987, 161). Keine Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift sind Schlußfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen (vgl. BFH-Urteil vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785). Zu den Schlußfolgerungen gehört auch eine Schätzung aufgrund von tatsächlichen Schätzungsgrundlagen. Im Streitfall hat der steuerliche Berater zwar die Summe der steuerbegünstigten Umsätze im Wege der schätzungsweisen Aufteilung ermittelt. Gleichwohl ist die Tatsache, daß sich diese Umsätze auf 84 537 DM und die zum Regelsatz zu versteuernden Umsätze demgemäß auf 162 900 DM belaufen, dem FA erst nachträglich bekanntgeworden. Diese Tatsache würde beim Kläger zu einer niedrigeren Steuer führen. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 gilt auch für die Änderung solcher Bescheide, die vor Inkrafttreten der AO 1977 am 1. Januar 1977 ergangen sind (Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -).
Einer Änderung des Umsatzsteuerbescheides für 1974 steht jedoch entgegen, daß das nachträgliche Bekanntwerden der neuen Tatsache auf einem groben, dem Kläger zuzurechnenden Verschulden seines Beraters beruht.
Als grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Beteiligte die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise verletzt (BFH-Urteile vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, 555, BStBl II 1983, 324, m. w. N.; in BFHE 148, 208, 210 f., BStBl II 1987, 161). Ob ein Beteiligter unter den gegebenen Verhältnissen grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können - mit Ausnahme hier nicht erhobener Verfahrensrügen - in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteile in BFHE 137, 547, 555 f., BStBl II 1983, 324, 328; vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, 233, BStBl II 1984, 693).
Hinsichtlich des Verschuldens ist die Vorentscheidung rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, daß den Kläger selbst kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden treffe, da er als steuerrechtlicher Laie nicht fähig war, die Fehlerhaftigkeit der Umsatzsteuererklärung zu erkennen. Die tatsächlichen Feststellungen des FG tragen diese von ihm gezogene Schlußfolgerung. Auch konnte sich der Kläger in vollem Umfang auf seinen steuerlichen Berater verlassen.
Das nachträgliche Bekanntwerden der neuen Tatsachen beruht auf einem groben Verschulden seines damaligen Beraters. Bei der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 ist dem Kläger dieses Verschulden zuzurechnen. Der erkennende Senat schließt sich der Auffassung des IV., VI. und VIII. Senats des BFH an (vgl. Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2; vom 25. November 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256). Dabei sind an einen steuerlichen Berater, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, erhöhte Anforderungen hinsichtlich der zu erwartenden Sorgfalt zu stellen; insbesondere muß von Angehörigen der steuerberatenden Berufe die Kenntnis und sachgemäße Anwendung der einschlägigen steuerlichen Bestimmungen erwartet werden. Denn diese sind zur sorgfältigen Bearbeitung der Steuerangelegenheiten verpflichtet (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 1. Juli 1971 VII ZR 295/69, Betriebs-Berater - BB - 1971, 1305).
Wie das FG - für den Streitfall bindend (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) - festgestellt hat, lag die Sorgfaltspflichtverletzung des damaligen Beraters darin, daß der Gesamtumsatz nach einem Maßstab aufgeteilt wurde, der durch die Betriebsverlegung und die sich hieraus ergebende Entwicklung der betrieblichen Verhältnisse - insbesondere der Zusammensetzung des Warensortiments - inhaltlich überholt war. Die Notwendigkeit, bei Erstellung der Umsatzsteuererklärung den Aufteilungsmaßstab zu überprüfen, ergab sich aus den maschinell erstellten ,,Anlagen zur G. u. V.", aus denen der mit dem Steuersatz von 5,5 v. H. belastete Wareneinsatz (insbesondere Zeitungen: 40 404,02 DM; Süßwaren: 21 371,41 DM) ersichtlich war. Diese Waren konnten für eine Weiterveräußerung zum Regelsteuersatz nicht in Betracht kommen. Einer etwaigen Annahme, daß diese Waren nicht umgesetzt worden sind, konnten allenfalls fernliegende und theoretische Überlegungen zugrunde liegen. Die Wertung der festgestellten Sorgfaltspflichtverletzung als grob fahrlässig ist hiernach revisionsrichterlich nicht zu beanstanden.
Das FG hat seiner Entscheidung den unwidersprochenen Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung zugrunde gelegt, daß der hier zu beurteilende Fehler einer Mitarbeiterin des Steuerbevollmächtigten S unterlaufen sei. Es wäre für die Entscheidung unerheblich, wenn der Steuerbevollmächtigte S sich insoweit auf die Erfüllung der ihm obliegenden Sorgfaltspflicht bei der Auswahl und Überwachung der Mitarbeiterin berufen hätte: Der mit der Ausarbeitung der Steuererklärung beauftragte steuerliche Berater ist Erfüllungsgehilfe des Steuerpflichtigen und hat seinerseits das grobe Verschulden von Mitarbeitern zu vertreten (vgl. Urteil in BFHE 137, 547, 554, BStBl II 1983, 324).
Ein dem Kläger zurechenbares Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Besteuerungsgrundlage wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß das FA möglicherweise seine diesbezüglichen Aufklärungspflichten verletzt hat (Urteil in BFHE 148, 208, 211, BStBl II 1987, 161).
Eine Pflicht des FA zur Berichtigung des Steuerbescheides ergibt sich auch nicht aus § 129 AO 1977. Fehler in der Steuererklärung - von den Fällen der Selbstveranlagung abgesehen (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 26. Juli 1979 V R 108/76, BFHE 128, 334, BStBl II 1980, 18) - rechtfertigen für sich allein keine Berichtigung nach § 129 AO 1977. Denn diese Vorschrift gilt nach ihrem Wortlaut und Sinn nicht für Versehen des Steuerpflichtigen (Urteil in BFHE 141, 485, 486 f., BStBl II 1984, 785, m. w. N.). Nur dann, wenn die Fehlerhaftigkeit der Angaben für das FA als offenbare Unrichtigkeit erkennbar war, das FA also eine offenbare Unrichtigkeit des Steuerpflichtigen als eigene übernommen hat, kommt eine Berichtigung nach § 129 AO 1977 in Betracht (Urteil in BFHE 141, 485, 487, BStBl II 1984, 785). Dies ist im Streitfall zu verneinen, da die Unstimmigkeit des erklärten Satzes für das FA nicht ,,ohne weiteres erkennbar" war. Dieses hatte keine Veranlassung, die als steuerbegünstigt erklärten Umsätze mit der den Wareneinsatz aufschlüsselnden Anlage zur Gewinn- und Verlustrechnung abzugleichen.
Fundstellen
Haufe-Index 415179 |
BFH/NV 1988, 342 |