Entscheidungsstichwort (Thema)
Inhaltliche Bestimmtheit eines LSt-Haftungsbescheides; Wiedereinsetzung
Leitsatz (NV)
1. Für die inhaltliche Bestimmtheit eines Lohnsteuer-Haftungsbescheides genügt es, wenn die Haftungsbeträge im Lohnsteuer-Prüfungsbericht nach Jahren aufgegliedert sind und in dem Bescheid auf den als Anlage beigefügten Prüfungsbericht Bezug genommen wird.
2. Zum Begriff des Vertreters i.S. des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977.
Normenkette
EStG § 42d; AO 1977 §§ 110, 119 Abs. 1, § 125
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine GmbH. Anläßlich einer Lohnsteuer-Außenprüfung stellte der Prüfer u.a. fest, daß die Klägerin an Arbeitnehmer Wohnungen zu Mietpreisen unter der Kostenmiete (ortsübliche Miete) überlassen hatte. Er vertrat die Auffassung, daß der Unterschiedsbetrag zwischen gezahlter und ortsüblicher Miete Arbeitslohn sei, wobei im Streitfall die Freigrenze von 40 DM nach Abschn. 50 Abs. 2 Nr. 3 der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) nicht zur Anwendung kommen könne.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) folgte der Auffassung des Prüfers und erließ am 2. Oktober 1980 wegen dieser und anderer Feststellungen des Prüfers einen Haftungsbescheid. In diesem sind die Haftungsbeträge nicht nach Kalenderjahren aufgegliedert. Allerdings hat das FA ,,wegen der Berechnungsgrundlagen" auf den ,,beigefügten" Prüfungsbericht hingewiesen. Der Bescheid wurde am 2. Oktober 1980 (Donnerstag) zur Post gegeben. Er erhielt von der Klägerin den Eingangsstempel vom 6. Oktober 1980.
Mit Schreiben vom 16. Oktober 1980 bat die Klägerin unter dem Betreff ,,Lohnsteuer-Außenprüfung", sie aus der im Prüfungsbericht enthaltenen Auflage, die Nachforderungsbeträge den Arbeitnehmern weiterzubelasten, zu entlassen. Das FA äußerte sich dazu nicht. Mit weiterem Schreiben vom 7. November 1980 (Freitag), beim FA eingegangen am 10. November 1980 (Montag), führte die Klägerin unter Hinweis auf ihr Schreiben vom 16. Oktober 1980 aus, sie lege gegen den Haftungsbescheid vom 2. Oktober 1980 noch einmal vorsorglich Einspruch ein.
Das FA sah das Schreiben vom 16. Oktober 1980 nicht als Einspruch an und wies die Klägerin mit Schreiben vom 1. April 1981 darauf hin, daß der erstmals mit Schriftsatz vom 7. November 1980 am 10. November 1980 eingelegte Einspruch verspätet sei. Hierauf beantragte die Klägerin am 29. April 1981 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und führte hierzu aus, die Verspätung sei durch mehrere unglückliche Umstände, an denen sie kein Verschulden trage, verursacht worden. Durch Urlaubsabwesenheit und die plötzliche schwere Erkrankung einer Mitarbeiterin seien Terminüberwachung und Schreibarbeiten beeinträchtigt worden. Deshalb habe das fragliche Schreiben erst am 7. November 1980 erstellt werden können. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig.
Mit der Klage machte die Klägerin geltend, der angefochtene Bescheid sei nach § 125 der Abgabenordnung (AO 1977) nichtig, weil er die Haftungssumme für Lohn- und Kirchensteuern für den gesamten Prüfungszeitraum jeweils in einem Betrag ohne Aufgliederung nach Jahren und Steuerschuldnern enthalte. Für die hinreichende Bestimmtheit des Bescheides genüge nicht die Bezugnahme auf den Prüfungsbericht. Jedenfalls sei der Bescheid mangels Aufgliederung nach Kalenderjahren rechtswidrig. Auch habe das FA zu Unrecht die Freigrenze von 40 DM nicht angewandt. Zur Frage der Einspruchsfrist führte die Klägerin aus, sie sei der Meinung gewesen, das Rechtsbehelfsverfahren durch das Schreiben vom 16. Oktober 1980 in Gang gebracht zu haben. Im übrigen sei ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Lohnsteuervorgang sei zur Wiedervorlage auf Montag, den 3. Oktober 1980 in das Abteilungssekretariat gegeben worden. Seit mehr als 20 Jahren werde dort die Fristenüberwachung von einer erfahrenen Sekretärin durchgeführt, die hierzu einen Fristenkalender führe und die vorzulegenden Schriftstücke in einer Terminmappe aufbewahre. Diese Sekretärin habe nach Rückkehr aus dem Urlaub am 3. November 1980 kurz nach Dienstantritt die Nachricht von der plötzlichen Erkrankung der Geschäftsführersekretärin erhalten und sei sofort zur Erledigung dringender Arbeiten in das Geschäftsführersekretariat beordert worden. Die Wiedervorlage sei unterblieben. Erst beim nächsten Wiedervorlagetermin am Freitag, den 7. November 1980, sei dieses Versehen bemerkt worden. Der Vorgang sei dem Sachbearbeiter vorgelegt worden, der sofort ein förmliches Einspruchsschreiben verfaßt habe. Es liege somit kein Organisationsmangel, sondern ein Büroversehen vor, das ihr, der Klägerin, nicht angelastet werden könne.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, zwar sei der Haftungsbescheid nicht nichtig. Er sei aber rechtswidrig und das FA habe zu Unrecht den Einspruch der Klägerin wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig verworfen. Die Klägerin treffe nach dem im finanzgerichtlichen Verfahren glaubhaft gemachten Vortrag kein Verschulden an der Fristversäumung, weshalb ihr Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Der angefochtene Bescheid sei auch rechtswidrig, denn die Haftungssumme sei nicht nach Kalenderjahren aufgegliedert worden. Die fehlende Aufgliederung werde auch nicht durch die Bezugnahme auf den eine solche Aufgliederung enthaltenden Prüfungsbericht ersetzt.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung der §§ 110 und 119 AO 1977. Dem FG könne nicht darin gefolgt werden, daß die Klägerin die Einspruchsfrist nicht schuldhaft versäumt habe. Zwar möge die Klägerin ein Verschulden bei der Auswahl der mit der Fristüberwachung betrauten Bürokraft nicht treffen; anzulasten sei ihr aber eine schuldhafte Verletzung ihrer betrieblichen Organisationspflicht zur Sicherung einer zuverlässigen Fristenkontrolle.
Zwar habe die Klägerin - obwohl die für rechtsberatende Berufe entwickelten Grundsätze zur Zurechnung des Verschuldens von Erfüllungsgehilfen hier nicht anwendbar seien - vorgetragen, die von ihr geführte Fristenüberwachung sei mit derjenigen in freiberuflichen Praxen vergleichbar. Diese strengen Anforderungen an die Büroorganisation in rechtsberatenden Berufen seien aber im Streitfall - ganz abgesehen davon, daß bei einem Steuerpflichtigen strengere Anforderungen an den Nachweis des Nichtverschuldens der Fristversäumung zu stellen seien - nicht erfüllt. Bei Angehörigen rechtsberatender Berufe sei nach der Rechtsprechung erforderlich, daß sich in einem allgemeinen Terminkalender eingetragene gesetzliche Fristen und sonstige eingetragene Fristen unterscheiden, und daß der Fristenkalender täglich durchgesehen werde. Das Notieren und Überwachen lediglich von Wiedervorlagefristen reiche nicht aus. Nach der sich aus der eidesstattlichen Versicherung der Sekretärin ergebenden Darstellung habe diese lediglich einen Wiedervorlagetermin notiert. Auch habe der Klägerin gerade für den von ihr vorgetragenen Ausnahmefall, daß sie die mit der Fristüberwachung betraute Bürokraft zur anderweitigen Verwendung abziehe, eine besondere Überwachungspflicht oblegen. Im Streitfall sei aber die Vertretung der Sekretärin nicht ordnungsgemäß geregelt gewesen, weshalb der Wiedervorlagetermin übersehen worden sei. Angesichts der ,,außergewöhnlichen Umstände" sei es auch Aufgabe des für die Steuerangelegenheiten zuständigen Prokuristen gewesen, die im allgemeinen auf die Bürokraft delegierte Fristenkontrolle sicherzustellen.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie ist der Revision im wesentlichen mit den Gründen der Vorentscheidung entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Das FG hat zutreffend entschieden, daß der angegriffene Haftungsbescheid nicht nichtig i.S. des § 125 AO 1977 ist, denn er leidet nicht an einem besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehler. Abgesehen davon, daß die fehlende Aufgliederung der Haftungssumme nach Jahren oder Anmeldungszeiträumen im Bescheid selbst kein schwerwiegender Mangel i.S. dieser Vorschrift ist, hat der Senat durch Urteil vom 8. November 1985 VI R 237/80 (BFHE 145, 363, BStBl II 1986, 274) entschieden, daß ein Haftungsbescheid die Lohnsteuerhaftungssumme nicht nach den einzelnen Lohnzahlungszeiträumen, insbesondere also nicht nach Monaten getrennt ausweisen muß. Vielmehr genügt es - auch für die inhaltliche Bestimmtheit (§ 119 Abs. 1 AO 1977) -, wenn die Haftungsbeträge im Lohnsteuerprüfungsbericht nach Jahren aufgegliedert sind und in dem Bescheid auf den als Anlage beigefügten Prüfungsbericht Bezug genommen wird (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. Juli 1985 VI R 208/82, BFHE 145, 29, BStBl II 1986, 152).
2. Das FG ist in seiner Vorentscheidung auch zu Recht davon ausgegangen, daß die Klägerin gegen den nach seinen tatsächlichen Feststellungen am 6. Oktober 1980 zugegangenen Haftungsbescheid nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfrist (§ 355 Abs. 1 AO 1977) Einspruch eingelegt hat. Dabei hat das FG zutreffend das Schreiben der Klägerin vom 16. Oktober 1980, in dem sie sich nur gegen die im Prüfungsbericht enthaltene und vom Haftungsbescheid unabhängige Aufforderung gewandt hat, die Nachforderungsbeträge ihren Arbeitnehmern weiterzubelasten, nicht als Einspruch gegen den Haftungsbescheid angesehen. Für die Auffassung, daß dieses Schreiben noch keinen Einspruch gegen den Haftungsbescheid selbst enthielt, spricht auch, daß die Klägerin gerade zur Wahrung der Einspruchsfrist ihre Sekretärin mit der Wiedervorlage des Lohnsteuervorgangs zum 3. November 1980 betraut hatte. Mit dem FG ist davon auszugehen, daß die Klägerin erst mit ihrem Schreiben vom 7. November 1980 am 10. November 1980 und damit verspätet Einspruch eingelegt hat.
3. Entgegen der Ansicht des FG hat das FA es allerdings zu Recht abgelehnt, der Klägerin wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Für die Entscheidung des Streitfalls kann dabei dahingestellt bleiben, ob der Senat dem FG darin folgen könnte, daß es sich bei dem Vortrag der Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags im finanzgerichtlichen Verfahren noch lediglich um eine zulässige Ergänzung der bereits im Verwaltungsverfahren gegenüber dem FA gemachten tatsächlichen Angaben gehandelt habe. Es kann auch dahingestellt bleiben, ob die Wiedereinsetzung mit den von der Revision vorgetragenen Gründen zu versagen war. Denn eine Wiedereinsetzung konnte der Klägerin schon deshalb nicht gewährt werden, weil der Wiedereinsetzungsantrag nicht rechtzeitig gestellt worden war.
Gemäß § 110 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 ist der Antrag innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Zur Zeit der Einspruchsbearbeitung (Einspruchsschreiben vom 7. November 1980) war die Einspruchsfrist bereits abgelaufen. Die Versäumung der Einspruchsfrist hätte der für die Klägerin tätige Prokurist - auch nach dem Inhalt der eidesstattlichen Versicherungen, auf die das FG wegen der Einzelheiten Bezug genommen hat - zumindest erkennen können und müssen. Es lief deshalb ab diesem Zeitpunkt die Wiedereinsetzungsfrist von einem Monat, die mit dem Schreiben der Klägerin vom 29. April 1981 nicht gewahrt wurde. Das Verschulden ihres Prokuristen ist der Klägerin auch gemäß § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 zuzurechnen. Der Begriff des Vertreters nach dieser Vorschrift ist weit auszulegen. Zu den Vertretern gehören neben den gesetzlichen auch die gewillkürten Vertreter i.S. des § 80 AO 1977. Durch Rechtsgeschäft bestellter Vertreter ist auch ein Prokurist i.S. der §§ 48 ff. des Handelsgesetzbuches (BFH-Urteil vom 3. Juli 1986 IV R 133/84, NV.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 110 AO Tz. 22).
Es ist auch nicht zu beanstanden, daß das FA die Wiedereinsetzung nicht gemäß § 110 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 ohne Antrag gewährt hat, denn nach dem vom FG festgestellten Sachverhalt boten sich dem FA innerhalb der Antragsfrist keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Wiedereinsetzungsgründen (vgl. Ziemer/ Haarmann / Lohse / Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 1932/3 f.).
Fundstellen
Haufe-Index 415773 |
BFH/NV 1989, 343 |