Leitsatz (amtlich)
1. § 196 AO setzt nicht voraus, daß die bei der Bestandsaufnahme errechnete Fehlmenge bereits eine „tatsächliche” Fehlmenge ist.
2. Gegen die Vorschriften des § 84 BierStDB a. F. über die amtliche Festsetzung eines Schwundsatzes bestehen keine rechtlichen Bedenken.
3. Selbst wenn bei der Bestandsaufnahme in der Brauerei zur Berechnung der überwachungspflichtigen Biermenge ein Schwundsatz angewendet werden durfte, dessen Festsetzung nicht mehr anfechtbar war, kann der Brauereiinhaber gegen eine sich daraus ergebende Fehlmenge im Rahmen des § 196 AO dartun, daß ein Schwund vorliegt, der bei Festsetzung des Schwundsatzes nicht berücksichtigt war.
Normenkette
AO § 196; BierStG § 25 Abs. 1 Nr. 3; BierStDB a.F. § 84 Abs. 1 bis, Abs. 3
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt –HZA –) setzte durch Verfügung vom 15. September 1967 gemäß § 84 Abs. 1 und 2 der Durchführungsbestimmungen zum Biersteuergesetz vom 14. März 1952 – BierStDB – (BGBl I 1952, 153, BZBl 1952, 199) i. d. F. der Änderungsverordnung vom 2. Dezember 1957 (BGBl I 1957, 1831), BZBl 1957, 592) für die Brauerei der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) den Gesamtverlust an Würze und Bier, der bei der Bierbereitung vom Ausschlagen der Würze aus der Braupfanne bis zum Abfüllen des Bieres auf die Versandgefäße entsteht, mit dem Schwundsatz von 9,5 % fest. Dieser Satz wurde einer am 30. September 1969 durchgeführten Bestandsaufnahme zugrunde gelegt. Es ergab sich eine Fehlmenge. Der Betriebsleiter der Klägerin unterschrieb gemäß § 67 Abs. 3 Satz 1 BierStDB die vom Oberbeamten über die Bestandsaufnahme aufgenommene Verhandlung. Das HZA erkannte für den größten Teil der Fehlmenge an, daß sie auf Umstände zurückzuführen war, die eine Steuerschuld in der Person der Klägerin nicht begründeten. Für die restliche Fehlmenge forderte es jedoch durch Bescheid vom 29. Dezember 1970 i. d. F. der Einspruchsentscheidung vom 21. September 1972 die Biersteuer an.
Mit der Klage machte die Klägerin im wesentlichen geltend: § 84 BierStDB überschreite die Ermächtigung des § 25 Abs. 1 Nr. 3 des Biersteuergesetzes (BierStG) vom 14. März 1952 (BGBl I 1952, 149, BZBl 1952, 195). Es sei gesetzwidrig gewesen, den im Jahre 1967 ermittelten Schwundsatz der Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 zugrunde zu legen. Die Höhe des bei der Bierherstellung vom Ausschlagen der Würze bis zum Abfüllen des Bieres auf die Versandgefäße entstehenden Schwundes hänge von einer Vielzahl von veränderlichen Umständen ab und könne daher nicht für einen längeren Zeitraum ermittelt werden. Außerdem sei der im Jahre 1967 festgesetzte Schwundsatz unzutreffend gewesen. Die Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 sei auch nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. In Wirklichkeit habe eine Fehlmenge überhaupt nicht vorgelegen.
Das Finanzgericht (FG) gab durch das angefochtene Urteil dem Begehren der Klägerin, den Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben, statt und führte aus: Die Frage, ob § 84 BierStDB durch § 25 BierStG gedeckt sei, brauche nicht entschieden zu werden, da nicht festgestellt werden könne, daß die Voraussetzungen des dem Steuerbescheid zugrunde gelegten § 196 AO erfüllt seien. Nach dieser Vorschrift sei die Steuer nur für die sich aus einer Bestandaufnahme ergebende tatsächliche Fehlmenge zu entrichten. Als Fehlmenge komme die Differenz zwischen dem tatsächlich vorhandenen Bestand und demjenigen Bestand in Betracht, der sich rein rechnungsmäßig durch Abzug des Gesamtabgangs vom Gesamtzugang nach Maßgabe der in den Betriebsbüchern enthaltenen Anschreibungen ergebe. Eine tatsächliche Differenz bestehe aber nur dann, wenn diese Differenz die tatsächlichen Herstellungsverluste berücksichtige.
Da die Feststellung einer Fehlmenge nach § 196 AO die – widerlegbare – Vermutung begründe, daß für die fehlende Menge der steuerbaren Erzeugnisse der die Steuerschuld begründende Tatbestand erfüllt worden sei, müßten bei der Anwendung der Vorschrift Zweifel daran, ob die bei der Bestandsaufnahme ermittelte bzw. errechnete Fehlmenge auch eine tatsächliche Fehlmenge sei, ausgeschlossen sein. Für Bier, dessen Existenz nicht einwandfrei feststehe, könne nicht festgestellt und auch nicht vermutet werden, daß ein steuerbegründender Tatbestand verwirklicht worden sei.
Es bestünden schwerwiegende Bedenken dagegen, daß der im Jahre 1967 festgesetzte Schwundsatz von 9,5 % bei der Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 die tatsächlichen Herstellungsverluste erfaßt habe. Selbst wenn der Satz damals zutreffend ermittelt worden sei, sei nicht berücksichtigt, daß die Herstellungsverluste jeweils von Umständen beeinflußt würden, die z. T. nur schwer erkennbar seien, z. B. vom Wetter und von der Arbeitsmoral der Betriebsangehörigen. Es lägen aber auch hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, daß der Satz schon vor der Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 den tatsächlichen Herstellungsverlusten nicht entsprochen habe. In einem an die Klägerin gerichteten, die Bestandsaufnahme vom 30. September 1968 betreffenden Schreiben vom 27. März 1969 habe das HZA erklärt, der auf 9,5 % festgesetzte Schwundsatz sei vermutlich zu niedrig. Auch die unwidersprochen geblichenen Angaben der Klägerin, daß in den Geschäftsjahren 1967/68, 1968/69 und 1969/70 der Schwundsatz jeweils tatsächlich 10,2 %, 10,59 % und 10,34 % betragen habe, deuteten auf einen Fehler hin. Die Betriebsprüfung habe im Mai 1969, also in dem durch die Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 erfaßten Zeitraum bei einer Steueraufsichtsprüfung errechnet, daß der Schwund 9,5 % bis 10 % betrage. Schließlich habe der Aufsichtsoberbeamte in seinem Bericht vom 2. Februar 1970 erwähnt, daß bei der Schwundsatzfestsetzung im Jahre 1967 z. T. andere Betriebsverhältnisse vorgelegen hätten.
Da demnach bei dem zur Entscheidung über die Fehlmenge zuständigen HZA schon seit längerer Zeit Zweifel daran bestanden hätten, ob der angewandte Schwundsatz dem tatsächlich eingetretenen Herstellungsverlust entsprochen habe, könne die nach diesem Schwundsatz errechnete Fehlmenge erst recht nicht als festgestellte Fehlmenge i. S. des § 196 AO gelten.
Die Anerkennung des Bestandsaufnahmeergebnisses vom 30. September 1969 durch die Unterzeichnung der darüber angefertigten Verhandlung könne nur bedeuten, daß der Oberbeamte bei der Bestandsaufnahme die bestehenden Vorschriften beachtet habe und dabei zum rechnerisch richtigen Ergebnis gelangt sei. Dadurch sei die errechnete Fehlmenge keineswegs als echte Fehlmenge anerkannt worden.
Mit der Revision macht das HZA geltend:
Die Auslegung des § 196 AO durch das FG widerspreche dem Wortlaut der Vorschrift und werde ihrer Tragweite und ihrem Zweck nicht gerecht. Die Auffassung des FG, zur Fehlmengenversteuerung seien exakte Feststellungen erforderlich, die Zweifel ausschlössen, stehe im Gegensatz zur einhelligen Meinung des Schrifttums und der Rechtsprechung.
Das HZA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Das HZA begehe den Fehler, sich nur mit der Auslegung des § 196 AO zu befassen, ohne vorher geprüft zu haben, ob seine Voraussetzungen vorlägen. Ehe die Vorschrift angewandt werden könne, müßten sich Fehlmengen ergeben haben, und das gerade werde nachhaltig bestritten.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Das FG irrt mit der seiner Entscheidung zugrunde gelegten Auffassung, der bei der Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 mit Hilfe des am 15. September 1967 nach § 84 BierStDB festgesetzten Schwundsatzes von 9,5 % errechnete Fehlbestand sei keine Fehlmenge i. S. des § 196 AO, weil unsicher sei, ob der Schwundsatz den tatsächlichen Herstellungsverlusten entsprochen habe, und weil daher eine durch § 196 AO geforderte tatsächliche Fehlmenge nicht vorliege. § 196 AO geht lediglich davon aus, daß sich bei Bestandsaufnahmen Fehlmengen ergeben, und bestimmt, daß der Betriebsinhaber die auf sie entfallenden Verbrauchsteuern zu entrichten hat, sofern nicht dargetan wird, daß die Fehlmengen auf Umstände zurückzuführen sind, die eine Steuerschuld in der Person des Betriebsinhabers nicht begründen. Die Vorschrift setzt nicht voraus, daß die bei der Bestandsaufnahme errechnete Fehlmenge bereits eine „tatsächliche” Fehmenge ist. Für ihre Anwendbarkeit genügt es, daß die Bestandsaufnahme nach den für sie maßgeblichen Vorschriften durchgeführt worden ist und sich dabei eine Fehlmenge ergeben hat.
Bei der Bestandsaufnahme in einer Brauerei sind gemäß § 67 Abs. 2 BierStDB die in der Brauerei vorhandenen Würze- und Biermengen festzustellen, in die überwachungspflichtige Biermenge umzurechnen und mit den abschließenden Büchern zu vergleichen. Die überwachungspflichtige Biermenge wird dadurch errechnet, daß von der festgestellten Menge der Ausschlagwürze der amtlich festgesetzte Durchschnittsverlust abgezogen wird, der vom Ausschlagen der Würze bis zum Abfüllen des Bieres auf die Versandgefäße entsteht. Gegen die Vorschriften des § 84 BierStDB über die amtliche Festsetzung dieses Durchschnittsverlustes durch einen Schwundsatz bestehen keine rechtlichen Bedenken. Sie entsprechen der Ermächtigungsvorschrift des § 25 Abs. 1 Nr. 3 BierStG, die dem Bundesminister der Finanzen (BdF) gestattet, durch Rechtsverordnung die Vorschriften zur Durchführung der §§ 12 bis 16 und 21 Abs. 1 BierStG zu erlassen und die in §§ 191 und 192 AO vorgesehenen Bestimmungen zu treffen. Nach § 12 Abs. 1 BierStG unterliegen die Brauereien der Steueraufsicht. Diese erstreckt sich im wesentlichen auf die Ermittlung der Biermenge, durch deren Entfernung aus der Brauerei oder Verbrauch in der Brauerei nach § 2 Abs. 1 BierStG die Steuerschuld entstehen kann. Es ist daher ein legitimes Anliegen der Steueraufsicht, schon die Bierherstellung zu überwachen und hierbei insbesondere einen brauchbaren Maßstab für die Umrechnung der aus der Braupfanne ausgeschlagenen Würze in die zu überwachende Biermenge anzuwenden. Einen solchen Maßstab liefert der nach § 84 BierStDB festgesetzte Satz für den Schwund an Würze und Bier vom Ausschlagen der Würze bis zur Abfüllung des Bieres auf die Versandgefäße.
Im vorliegenden Falle war die Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 nicht etwa deshalb vorschriftswidrig, weil der dabei angewendete Schwundsatz von 9,5 % bereits zwei Jahre zuvor festgesetzt worden war. Die Richtigkeit dieses Satzes war zwar nach den Feststellungen des FG schon vor der Bestandsaufnahme nicht nur von der Klägerin, sondern auch vom HZA und von der Betriebsprüfung in Zweifel gezogen worden, so daß möglicherweise gemäß § 84 Abs. 3 BierStDB für das HZA Anlaß zur Prüfung der Frage bestanden hatte, ob der Schwund neu festzusetzen war. Aber die Klägerin hat bei der Bestandsaufnahme vom 30. September 1969 selbst ihre Zweifel nicht aufrechterhalten, sondern mit der vorbehaltslosen Unterzeichnung der vom Oberbeamten nach § 67 Abs. 3 BierStDB über die Bestandsaufnahme aufgenommenen Verhandlung die Anwendung des Satzes von 9,5 % hingenommen.
Aber selbst wenn, wie im vorliegenden Falle, bei der Bestandsaufnahme in der Brauerei zur Berechnung der überwachungspflichtigen Biermenge ein Schwundsatz angewendet werden durfte, dessen Festsetzung bereits längere Zeit zurücklag und nicht mehr anfechtbar war, kann der Brauereiinhaber gegen eine sich daraus ergebende Fehlmenge im Rahmen des § 196 AO Bedenken gegen die Richtigkeit des Schwundsatzes geltend machen. Denn § 196 AO räumt dem Brauereiinhaber die Befugnis ein, darzutun, daß die Fehlmenge auf Umstände zurückzuführen ist, die eine Steuerschuld in seiner Person nicht begründen. Es muß also auch im Rahmen des § 196 AO den Einwendungen nachgegangen werden, die der Brauereiinhaber gegen die Richtigkeit des bei der Bestandsaufnahme zur Ermittlung der überwachungspflichtigen Biermenge angewandten Schwundsalzes i. S. des § 84 Abs. 2 BierStDB vorgetragen hat. Da das FG diese Aufgabe noch nicht wahrgenommen hat, muß die Sache gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.
Fundstellen