Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Steuerliche Betriebsprüfung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Die Anrechnung von einbehaltenen Steuerabzugsbeträgen in Steuerbescheiden kann nach der Unanfechtbarkeit eines Steuerbescheids bis zum Ablauf der Verjährungsfrist unbeschränkt zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen berichtigt werden, auch ohne daß die Voraussetzungen des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) erfüllt sind.
Normenkette
AO § 92 Abs. 3, 2, §§ 93, 96, 125; EStG § 47 Abs. 1 Ziff. 2
Tatbestand
Der Revisionskläger (Steuerpflichtige - Stpfl. -), ein Angestellter, hatte in seiner Einkommensteuererklärung 1962 angegeben, daß seine Arbeitgeberin ihm 6.116 DM an Lohnsteuer und 611,60 DM an Lohnkirchensteuer einbehalten und an den Steuerfiskus abgeführt habe. Die Frage nach Steuererstattungen beantwortete der Stpfl. unrichtig mit "-". Tatsächlich hatte ihm seine Arbeitgeberin im Lohnsteuer-Jahresausgleich 1962 1.882 DM an Lohnsteuer und 188,20 DM an Lohnkirchensteuer gutgebracht, wie sich aus der Lohnbescheinigung der Arbeitgeberin ergibt, die der Steuererklärung beigefügt war. Das Finanzamt (FA) übersah diese Bescheinigung und rechnete bei der Einkommensteuerveranlagung 1962 die 6.116 DM an Lohnsteuer und 611,60 DM an Lohnkirchensteuer voll auf die veranlagte Steuerschuld an, so daß sich eine überzahlung von 2.466 DM an Lohnsteuer und 246,60 DM an Lohnkirchensteuer ergab.
Der Einkommensteuerbescheid 1962 wurde in dieser Form unanfechtbar. Als das FA bei der Veranlagung 1963 den Fehler entdeckte, berichtigte es die Abrechnung für das Streitjahr 1962 dahin, daß nur noch eine überzahlung von 584 DM Lohnsteuer und 58,40 DM Lohnkirchensteuer ausgewiesen wurde.
Der Stpfl. bestreitet, daß die Abrechnung berichtigt werden könne; denn es läge weder eine offenbare Unrichtigkeit gemäß § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) vor noch sei eine neue Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO festgestellt worden. Das FA hätte bei der ursprünglichen Abrechnung den wirklichen Sachverhalt aus der Lohnbescheinigung entnehmen können. Daß er selbst sich beim Ausfüllen der Steuererklärung geirrt habe, sei nicht entscheidend; denn er sei kein Steuerfachmann. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG), dessen Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1966 S. 179 veröffentlicht ist, wies die Berufung als unbegründet zurück und führte aus: Eine unrichtige Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen im Einkommensteuerbescheid könne zwar nur unter den gleichen Voraussetzungen wie eine unrichtige Steuerfestsetzung berichtigt werden. Hier habe der Veranlagungsbeamte aber die Erklärung des Stpfl., daß keine Steuerabzugsbeträge einbehalten worden seien, ohne Prüfung übernommen. Darin liege eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne von § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.), die zur Berichtigung des unrichtigen Steuerbescheids führe.
Entscheidungsgründe
Die Revision, mit der der Stpfl. unrichtige Anwendung des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) rügt, ist im Ergebnis unbegründet.
Das FG nimmt an, die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen im Steuerbescheid sei ein Teil der Steuerfestsetzung, also einer Rechtsentscheidung, und könne darum zu Lasten des Stpfl. nur unter den Voraussetzungen des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) oder des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigt werden. Dieser Auffassung tritt der Senat nicht bei. Die Abrechnung über Steuerabzugsbeträge gehört nicht zur Steuerfestsetzung. § 211 Abs. 1 AO schreibt nur vor, daß schriftlich erteilte Steuerbescheide die Steuerschuld ausweisen müssen. Von der Abrechnung über geleistete Vorauszahlungen oder einbehaltene Steuerabzugsbeträge ist dabei nicht die Rede. Das FA hat im Steuerbescheid die Steuerschuld für 1962 richtig auf 3.650 DM festgesetzt. Diesen Betrag hat es auch später nicht geändert.
Der Steuerbescheid hat die Aufgabe, die ermittelte und festgesetzte Steuerschuld dem Stpfl. mitzuteilen. Die Abrechnung über die einbehaltene Lohnsteuer oder die vom Stpfl. im Laufe des Jahres geleisteten Vorauszahlungen ist schon nach Sinn und Wortlaut des § 47 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht Teil der Steuerfestsetzung, sondern der Steuererhebung. In der Abrechnung wird dem Stpfl. mitgeteilt, in welchem Umfang die festgesetzte Steuerschuld getilgt ist. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen veranlassen die Steuerverwaltungsbehörden, den Steuerbescheid, der die Steuerfestsetzung enthält und die Abrechnung über die geleisteten Vorauszahlungen und die einbehaltenen Steuerabzugsbeträge in einem Bescheid zusammenzufassen. Trotz dieser technischen Zusammenfassung liegen aber der Sache nach zwei Bescheide vor, die in der rechtlichen Beurteilung voneinander zu trennen sind. Die Vorschriften über die Berichtigung der Steuerfestsetzungen in Steuerbescheiden können auf die Abrechnung in den Steuerbescheiden nicht angewendet werden. Die Rechtsprechung, z. B. in den Urteilen des Bundesfinanzhofs - BFH - IV 230/56 vom 12. Dezember 1958 (Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz, § 47, Rechtsspruch 13) und VI 344/63 vom 24. April 1964 (StRK, Einkommensteuergesetz, § 47, Rechtsspruch 18) hat demgemäß auch Anrechnungsverfügungen für frei widerruflich erklärt (vgl. auch Hartz-Over, ABC-Führer Lohnsteuer, Stichwort Veranlagung unter Ziff 5; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 2. Aufl., § 211 Bem. 8).
Die Abrechnung über Steuerabzugsbeträge im Steuerbescheid ist auch nicht etwa ein Abrechnungsbescheid im Sinne von § 125 AO und unterliegt deshalb auch nicht unter diesem Gesichtspunkt gemäß § 94 Abs. 1 in Verbindung mit § 229 Ziff. 8 AO den erschwerten Widerrufsvoraussetzungen für Steuerbescheide (Urteil des BFH VII 293/64 vom 8. Juni 1966, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 86 S. 409 - BFH 86, 409 -, BStBl III 1966, 563; Riewald, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Anm. 1 zu § 125; Hübschmann-Hepp-Spitaler- v. Wallis-Lademann-Hartung, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 1. bis 5. Aufl., Anm. 6 zu § 125). Der Abrechnungsbescheid setzt voraus, daß Meinungsverschiedenheiten über das Erlöschen von Zahlungspflichtigen bestehen, die durch den Abrechnungsbescheid geschlichtet werden.
Auch § 96 AO steht dem freien Widerruf von Anrechnungsverfügungen nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift können begünstigende Verwaltungsakte - entgegen dem allgemeinen Grundsatz des § 93 AO - nur unter erschwerten Voraussetzungen zurückgenommen werden. § 96 AO gilt aber nur für konstitutive (rechtsbegründende und rechtsändernde) Verfügungen, nicht aber auch für deklaratorische Akte (vgl. z. B. BFH-Urteile VII 11/60 U vom 12. Oktober 1960, BFH 72, 22, BStBl III 1961, 9; VI 307/63 U vom 24. November 1965, BFH 84, 358, BStBl III 1966, 129). Die Anrechnung einbehaltener Steuerabzugsbeträge stellt aber, wie sich aus § 47 Abs. 1 Ziff. 2 EStG ergibt, nur eine steuerliche Rechtsfolge fest und ist somit kein konstitutiver Verwaltungsakt, aus dem dem Steuerpflichtigen ein subjektives Recht erwächst. Es kommt nicht darauf an, daß die Anrechnungsverfügung im Streitfall zugunsten des Stpfl. die Rechtslage zunächst unrichtig darstellte; denn fehlerhafte Verwaltungsakte, die dem Steuerpflichtigen günstig sind, werden dadurch nicht zu einer begünstigenden Verfügung im Sinne des § 96 AO (Urteil des BFH VII 11/60 U, a. a. O.).
Die Erstattung selbst ist zwar ein Verwaltungsakt, durch den der Stpfl. einen Vorteil erlangt. Sie beruht jedoch auf der Steuerveranlagung und der sich aus der irrtümlichen Anrechnung der Steuerabzugsbeträge ergebenden überzahlung. Der Verwaltungsakt der Steuererstattung steht in solchen Fällen nicht zugunsten der Steuerpflichtigen unter dem erhöhten Bestandsschutz des § 96 AO.
Nach allem geht es nur um eine Berichtigung der Abrechnung über Steuerabzugsbeträge, ein Vorgang, der etwa mit den Kontenauszügen verglichen werden kann, die von den Finanzkassen über Steuerzahlungen erteilt werden. Solche Abrechnungen können jederzeit zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen berichtigt werden. Es kommt - entgegen der Auffassung des FG - nicht darauf an, ob die Voraussetzungen des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) oder des § 222 Abs. 1 AO vorliegen.
Im Streitfall hat das FA zu hohe Steuerabzugsbeträge angerechnet. Es konnte diese Abrechnung, wie gesagt, unbeschränkt richtigstellen. Da das FG, wenn auch aus anderen rechtlichen Erwägungen, die vom FA vorgenommene Berichtigung des Steuerbescheids 1962 im Ergebnis zugelassen hat, war die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 412353 |
BStBl III 1967, 214 |
BFHE 1967, 514 |
BFHE 87, 514 |