Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei plötzlicher Erkrankung während des Laufs der Klagefrist
Leitsatz (NV)
Eine krankheitsbedingte Fristversäumnis rechtfertigt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann, wenn die Krankheit plötzlich eintritt und so schwer ist, daß der Erkrankte zur Vornahme der fristwahrenden Handlungen außerstande ist.
Normenkette
FGO § 56
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Der Kläger, der nach Abschluß des ersten juristischen Staatsexamens in der Zeit von 1971 bis Mai 1978 mit gelegentlichen Unterbrechungen in einem Ausbildungsverhältnis als Rechtsreferendar stand, erstattete im Mai 1980 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) für sich und seine Ehefrau (Klägerin), mit der er seit März 1972 verheiratet war, Selbstanzeige wegen Steuerverkürzungen in den Jahren 1970 bis 1979. Für diese Jahre hatten die Kläger keine Steuererklärungen abgegeben. Der Kläger gab hierbei neben Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit beider Ehegatten Einkünfte aus Beratungstätigkeit, Einkünfte aus Kapitalvermögen sowie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zweier Eigentumswohnungen in jeweils geschätzter Höhe an und sagte eine alsbaldige Einreichung der entsprechenden Steuererklärungen zu.
Nachdem die Kläger in der Folgezeit trotz wiederholter Aufforderung keine Steuererklärungen abgaben, erließ das FA für die Jahre 1971 bis 1979 auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhende Steuerbescheide.
Die Einspruchsentscheidung, mit der die hiergegen erhobenen Rechtsbehelfe der Kläger als unbegründet zurückgewiesen wurden, wurde den Klägern jeweils in gesonderter Ausfertigung mittels eingeschriebenen Briefen, die am 25. November 1982 zur Post gegeben wurden, zugestellt.
Mit ihrer am 11. Januar 1983 beim Finanzgericht (FG) angebrachten Klage begehrten die Kläger, unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die Einkommensteuer für die Streitjahre herabzusetzen. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags legten sie ein ärztliches Attest vor, wonach der Kläger infolge einer am 17. Dezember 1982 erlittenen Schädelprellung mit Hinterhauptplatzwunde sowie mehreren Blutergüssen im Gesichtsbereich, die eine chirurgische Wundbehandlung erforderlich gemacht hätten, und einer durch den Unfall verursachten Comotio cerebri mit postcommotionellem Syndrom vom 17. bis 31. Dezember 1982 arbeitsunfähig gewesen sei. Dem Kläger sei es hierdurch erst in der ersten Januarwoche 1983 möglich gewesen, die rechtlichen Überlegungen anzustellen, die zur Klageerhebung erforderlich gewesen seien.
In der mündlichen Verhandlung vor dem FG gab der Kläger ergänzend zu Protokoll, daß ihm bereits bei Erhalt der Schätzungsbescheide klar gewesen sei, daß die Schätzungen zu hoch gegriffen gewesen seien. Die durch die Verletzung verursachten Kopf- und Wundschmerzen hätten ihn bei der Prüfung der Klagevorbereitungen beeinträchtigt. Nach der der Einspruchsentscheidung beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung sei er davon ausgegangen, daß die Klage mit Begründung zu erheben sei.
Das FG lehnte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und wies die Klage als unzulässig ab.
Der Kläger sei durch die Folgen des Unfalls nicht an einer rechtzeitigen Klageerhebung gehindert gewesen und für die Klägerin seien überhaupt keine Wiedereinsetzungsgründe ersichtlich.
Mit der Revision rügen die Kläger die fehlerhafte Anwendung des § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).
Unter Vorlage einer weiteren ärztlichen Bescheinigung, in der ergänzend zum ursprünglichen Attest ausgeführt wird, daß beim Kläger bis zum Jahresende 1982 eine Arbeitsunfähigkeit in dem Sinne bestanden habe, daß er zu einer zielstrebigen und systematischen Anstrengung nicht in der Lage gewesen sei, tragen die Kläger vor:
Das FG habe die vorgelegte ärztliche Bescheinigung nicht in ihrer vollen Bedeutung gewürdigt, es wäre zumindest verpflichtet gewesen, eine ergänzende Stellungnahme des behandelnden Arztes einzuholen, wenn es Zweifel an der Richtigkeit des klägerischen Sachvortrags gehabt hätte. Aus der nunmehr vorgelegten Bescheinigung ergebe sich, daß der Vortrag des Klägers über seine schuldlose Verhinderung glaubhaft sei. Ein eigenes Verschulden der Klägerin scheide aus, da sie ihren Ehemann rechtzeitig mit der Durchführung des finanzgerichtlichen Verfahrens beauftragt hätte.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Das FG hat rechtsfehlerfrei die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO wegen Versäumung der Klagefrist des § 47 FGO verneint, ohne daß es hierzu weiterer Ermittlungen bezüglich der krankheitsbedingten Beeinträchtigungen des Klägers bedurfte.
Wiedereinsetzung wird gewährt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Eine Fristversäumnis ist als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. April 1976 IV R 43-45/75, BFHE 119, 208, BStBl II 1976, 624). Für den Fall einer Erkrankung gilt die Fristversäumnis als entschuldigt, falls es dem Erkrankten unmöglich oder unzumutbar ist, die in einer Fristsache notwendigen Überlegungen anzustellen bzw. eine sachgemäße Beratung durch Dritte in Anspruch zu nehmen und die fristwahrende Handlung selbst oder durch einen Dritten vorzunehmen (vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 110 AO 1977 Anm. 40, m. w. N.). Dies ist nur der Fall, wenn die Krankheit plötzlich eintritt und/oder so schwer ist, daß der Erkrankte zur Fristwahrung außerstande ist (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 10. Februar 1977 III ZR 132/76, Betriebs-Berater - BB - 1977, 365).
Der Kläger war durch die am 17. Dezember 1982 plötzlich eintretende Erkrankung nicht außerstande, die bis zum Ablauf der Klagefrist am 28. Dezember 1982 - die mittels Einschreiben zugestellte Einspruchsentscheidung galt gemäß § 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post (25. November) als bekanntgegeben - erforderlichen fristwahrenden Handlungen vorzunehmen. Hierbei kann offenbleiben, inwieweit der Kläger durch die attestierte Unfähigkeit zur zielstrebigen und systematischen geistigen Anstrengung in seinem Denken und Handeln beeinträchtigt war. Denn der Kläger hat, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, selbst nicht behauptet, daß er infolge des Unfalls nicht in der Lage war, die einfache Erklärung, daß er Klage erhebe, selbst abzugeben oder zumindest durch einen Dritten fristgemäß abgeben zu lassen. Insbesondere war ihm auch nach dem 17. Dezember 1982 der Lauf der Klagefrist bewußt, wie seine Einlassung, er sei bei der Prüfung der Klagevorbereitungen beeinträchtigt gewesen, deutlich macht.
Einer weiteren Aufklärung der unfallbedingten Beeinträchtigung des Klägers bedarf es somit nicht. Das FG hat zu Recht die Ansicht des Klägers, zur Wahrung der Klagefrist eine Klagebegründung anfertigen zu müssen, als einen mit den Unfallfolgen nicht in Zusammenhang stehenden Rechtsirrtum gewertet. Es hat die Entschuldbarkeit dieses Irrtums unter Hinweis auf den Text der Rechtsbehelfsbelehrung und die juristische Vorbildung des Klägers verneint. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob er dieser Auffassung folgen würde. Denn selbst bei einem entschuldbaren Rechtsirrtum wäre dem Kläger in einer die Wiedereinsetzung ausschließenden Weise vorzuwerfen, daß er in Kenntnis der angeblichen Unmöglichkeit, die für notwendig erachtete Klagebegründung selbst anzufertigen, nicht eine andere Person hiermit beauftragt hat. Für den in seinen rechtlichen Überlegungen beeinträchtigten Kläger kann insoweit letztlich nichts anderes gelten als für jeden anderen rechtlich unerfahrenen Steuerpflichtigen, der bei Versäumung von Rechtsbehelfen nicht ohne Verschulden handelt, wenn er es unterläßt, den Rat einer in steuerlichen Dingen erfahrenen Person einzuholen (BFH-Urteil vom 5 Dezember 1963 III 158/61, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 86, Rechtsspruch 118).
Die Klägerin, die selbst keine Wiedereinsetzungsgründe geltend gemacht hat, hat sich das Verschulden des Klägers, dessen sie sich als Prozeßbevollmächtigten bedient hat, zurechnen zu lassen (BFH-Beschluß vom 10. August 1977 II R 89/77, BFHE 123, 14, BStBl II 1977, 769).
Fundstellen
Haufe-Index 414301 |
BFH/NV 1986, 742 |