Entscheidungsstichwort (Thema)
Übergang zum Fortsetzungsfeststellungsantrag im Revisionsverfahren; finanzgerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen; Verrechnungsstundung von VSt-Vorauszahlungen mit zu erwartender ESt-Erstattung
Leitsatz (NV)
1. Die Einschränkung des Klagebegehrens auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag i. S. von § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO ist im Revisionsverfahren auch dann noch möglich, wenn in der Vorinstanz ein wegen eingetretener Erledigung der Hauptsache an sich unzulässiger Anfechtungs- oder Verpflichtungsantrag gestellt worden ist.
2. Die dem Finanzgericht durch § 102 FGO gezogenen Grenzen richterlicher Überprüfung von Ermessensentscheidungen der Finanzbehörden gestatten dem Finanzgericht nicht, eigenes Ermessen auszuüben und an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörde zu stellen. Das Finanzgericht hat nicht nachzuprüfen, ob die Ermessensentscheidung richtig oder angebracht ist oder sich aus anderen als der Ermessensentscheidung der Finanzbehörde zugrundeliegenden Erwägungen als rechtmäßig erweist. Gegenstand der finanzgerichtlichen Überprüfung sind allein die Ermessenserwägungen in der Form, wie sie der Ermessensentscheidung der Verwaltung nach Abschluß des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens zugrunde liegen.
3. Die Finanzbehörden verkennen das ihnen gemäß § 222 AO eingeräumte Ermessen für eine beantragte Verrechnungsstundung, soweit sie annehmen, von einem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehenden Gegenanspruch könne nur dann ausgegangen werden, wenn dieser durch Vorlage einer Steuererklärung nachgewiesen werde bzw. nach summarischer Prüfung der Steuererklärung keine Bedenken gegen das Vorhandensein eines Gegenanspruchs bestünden. Einer Vorlage einer Steuererklärung bedarf es dann nicht, wenn das Bestehen des Gegenanspruchs auf andere Weise, etwa durch Vorlage von Urkunden oder durch anderweitige Glaubhaftmachung mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden kann.
Normenkette
FGO § 100 Abs. 1 S. 4, § 102; AO 1977 § 222
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Im Jahr 1992 beantragten sie, ihnen gegenüber festgesetzte Vermögensteuervorauszahlungen zum 10. Mai, 10. August und 10. November 1993 in Höhe von insgesamt ... DM zinslos zu stunden und mit der für 1993 zu erwartenden Einkommensteuer- Erstattung zu verrechnen. Sie führten an, daß ihre Einkünfte im wesentlichen aus Einnahmen bestünden, die dem Zinsabschlag unterlägen. Diese Steuerabzugsbeträge überstiegen die zu erwartende festzusetzende Einkommensteuer 1993 erheblich.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) lehnte mit Bescheid vom 12. März 1993 die Stundung mit der Begründung ab, daß die Voraussetzungen für eine Verrechnungsstundung nicht vorlägen. Es könne vor Ablauf des Veranlagungszeitraums 1993 nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, ob für das Jahr 1993 mit einer Einkommensteuererstattung in Höhe des beantragten Stundungsbetrages gerechnet werden könne. Dies könne erst anhand einer Einkommensteuererklärung summarisch geprüft werden. Vorher könne eine Prognose zukünftiger Besteuerungsgrundlagen lediglich eine ungewisse Aussage über eine Steuererstattung beinhalten. Auch im Hinblick darauf, daß in der Vergangenheit die Besteuerungsgrundlagen im wesentlichen gleichgeblieben seien, könne nicht hinreichend zuverlässig vorausgesetzt werden, daß dies auch in Zukunft so sein werde.
Die Beschwerde der Kläger blieb ohne Erfolg. Die Oberfinanzdirektion (OFD) begründete die Zurückweisung im wesentlichen damit, daß eine Stundung nicht gewährt werden könne, da die endgültige Höhe der Einkünfte der Kläger erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums und nach Vorlage der Steuererklärung festgestellt werden könne.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Es hat dahingestellt sein lassen, ob der Einkommensteuererstattungsanspruch auch ohne Steuererklärung mit der erforderlichen Sicherheit anhand vorläufiger Berechnungen der Kläger ermittelt werden könne. Denn eine Verrechnungsstundung komme im Streitfall schon deshalb nicht in Betracht, weil der Gegenanspruch (Anspruch auf Erstattung der Einkommensteuer) nicht alsbald fällig werde. Der Einkommensteuererstattungsanspruch entstehe erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums 1993 und könne auch erst nach Abgabe einer Steuererklärung fällig werden.
Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung des § 222 der Abgabenordnung (AO 1977). Es stelle eine erhebliche Härte dar, daß die Finanzbehörden nicht bereit seien, den Dauerüberzahlungstatbestand, der Folge des Zinsabschlags sei, durch Stundung der Vermögensteuervorauszahlungen abzumildern.
Die Kläger beantragen, unter Aufhebung der Vorentscheidung festzustellen, daß die Ablehnung des Antrags auf Stundung der Vermögensteuervorauszahlungen für den 10. Mai, 10. August und 10. November 1993 durch den Bescheid des FA vom 12. März 1993 sowie die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 11. Juni 1993 rechtswidrig gewesen sei.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt unter Aufhebung der Vorentscheidung zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des die Stundung ablehnenden Bescheids des FA vom 12. März 1993 sowie der Beschwerdeentscheidung der OFD vom 11. Juni 1993.
1. Der Kläger hat im Revisionsverfahren seinen im Klageverfahren gestellten Verpflichtungsantrag zulässig auf einen Feststellungsantrag i. S. von § 100 Abs. 1 Satz 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eingeschränkt.
Hat sich ein mit der Klage angefochtener Verwaltungsakt erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO). Die in § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO vorgesehene Entscheidung in Anfechtungssachen findet auch auf Verpflichtungsbegehren entsprechend Anwendung, da diese regelmäßig ein Anfechtungsbegehren mitumfassen (vgl. Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 100 FGO Tz. 7, m. w. N; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 100 Tz. 55). Ein Übergang zum Feststellungsbegehren beinhaltet keine unzulässige Klageänderung (§§ 67, 123 FGO) und ist daher grundsätzlich auch im Revisionsverfahren noch statthaft (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. Februar 1988 V R 57/83, BFHE 152, 217, BStBl II 1988, 413, und Urteil vom 10. April 1990 VIII R 415/83, BFHE 160, 409, BStBl II 1990, 721). Die Einschränkung des Klagebegehrens auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag i. S. von § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO ist im Revisionsverfahren auch dann noch möglich, wenn -- wie im Streitfall -- in der Vorinstanz ein wegen eingetretener Erledigung der Hauptsache an sich unzulässiger Anfechtungs- oder Verpflichtungsantrag gestellt worden ist (vgl. BFH in BFHE 160, 409, BStBl II 1990, 721). Unschädlich ist auch, daß die Kläger ihren Verpflichtungsantrag erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist (§ 120 FGO) in einen Feststellungsantrag i. S. von § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO umgestellt haben. Denn eine Beschränkung des ursprünglichen Revisionsantrages ist jederzeit möglich (Gräber/Ruban, a. a. O., § 120 Tz. 30).
Die Kläger haben auch ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, da sich der dem Streitfall zugrundeliegende Sachverhalt mit großer Wahrscheinlichkeit im wesentlichen unverändert auch in den folgenden Jahren wiederholen wird und anzunehmen ist, daß die Finanzbehörden ihre ursprüngliche, für die Kläger ungünstige Rechtsauffassung beibehalten werden (BFH-Urteil vom 16. Dezember 1971 IV R 221/67, BFHE 103, 555, BStBl II 1972, 182; Kühn/Hofmann, a. a. O., § 100 FGO Tz. 7).
2. Die Vorentscheidung ist auf die Revision der Kläger aufzuheben, weil das FG die durch § 102 FGO gezogenen Grenzen richterlicher Überprüfung von Ermessensentscheidungen der Finanzbehörde nicht beachtet hat.
Nach dieser Vorschrift können Ermessensentscheidungen durch das FG nur darauf überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht beachtet oder Ermessen fehlerhaft ausgeübt wurde (vgl. Urteile des BFH vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508; vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493, und vom 12. Mai 1987 VII R 159/84, BFH/NV 1988, 139). Dem FG steht nicht das Recht zu, eigenes Ermessen auszuüben und an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörde zu setzen (vgl. BFH-Beschluß vom 25. April 1986 VI S 3/86, BFH/NV 1988, 518); es hat deshalb nicht nachzuprüfen, ob die Ermessensentscheidung richtig oder angebracht ist oder sich aus anderen als der Ermessensentscheidung der Finanzbehörde zugrundeliegenden Erwägungen als rechtmäßig erweist. Dabei sind Gegenstand der finanzgerichtlichen Überprüfung die Ermessenserwägungen in der Form, wie sie der Ermessensentscheidung der Verwaltung nach Abschluß des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens zugrunde liegen (vgl. Gräber/von Groll, a. a. O., § 102 Tz. 13, m. w. N.).
Gegen diese Verfahrensgrundsätze verstößt das angefochtene FG-Urteil.
Die Entscheidung der Finanzbehörden über die Gewährung oder Ablehnung einer Stundung nach § 222 AO 1977 ist eine Ermessensentscheidung, die vom FG nach § 102 FGO nur darauf überprüfbar ist, ob die OFD die gesetzlichen Grenzen des Ermessens beachtet und ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Das FG hat es jedoch unterlassen zu prüfen, ob die Ermessenserwägungen, so wie sie in der Begründung der Beschwerdeentscheidung ihren Niederschlag gefunden haben, rechtsfehlerfrei sind. Soweit nämlich die OFD -- wie zuvor das FA -- die Ablehnung der beantragten Stundung darauf gestützt hat, es könne erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums 1993 anhand der Einkommensteuererklärung mit hinreichender Sicherheit summarisch geprüft werden, ob alsbald mit einem fälligen Erstattungsanspruch in Höhe der beantragten Vermögensteuerstundung gerechnet werden könne, hat das FG ausdrücklich offengelassen, ob die OFD mit diesen Erwägungen die Grenzen des in § 222 AO 1977 eingeräumten Ermessens beachtet hat.
Statt dessen hat das FG in seinem Urteil die Auffassung vertreten, die Stundung sei aus einem von der Finanzverwaltung bislang nicht geltend gemachten Grunde abzulehnen, nämlich deshalb, weil der Einkommensteuererstattungsanspruch nicht alsbald fällig werde. Die Vorentscheidung hat damit unter Verstoß gegen § 102 FGO anstelle der Finanzbehörden eigenes Ermessen ausgeübt und ist deshalb aufzuheben.
3. Die Sache ist spruchreif (vgl. § 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Ermessenserwägungen der OFD, die der Ablehnung der Verrechnungsstundung im Streitfall zugrunde liegen, halten einer Rechtsüberprüfung nicht stand.
Zutreffend geht die Finanzbehörde davon aus, daß die Zahlung einer fälligen Steuer eine erhebliche Härte i. S. von § 222 AO 1977 darstellen kann, wenn der Steuerpflichtige in Kürze mit einer Steuererstattung rechnen könne, ohne daß bereits die Möglichkeit einer Aufrechnung besteht (BFH-Urteile vom 6. Oktober 1982 I R 98/81, BFHE 138, 1, BStBl II 1983, 397, und vom 7. März 1985 IV R 161/81, BFHE 143, 397, BStBl II 1985, 449). Nicht zu beanstanden ist auch, soweit das FA bzw. die OFD die Verrechnungsstundung ferner davon abhängig machen, daß der Gegenanspruch zur Zeit der Steuereinziehung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit besteht, in absehbarer Zeit fällig und nach Grund und Höhe rechtlich wie tatsächlich schlüssig belegt wird (vgl. BFH in BFHE 138, 1, BStBl II 1983, 397).
Die OFD und mit ihr das FA verkennen indes die Grenzen des eingeräumten Ermessens, soweit sie annehmen, von einem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehenden Gegenanspruch könne nur dann ausgegangen werden, wenn dieser durch Vorlage der Steuererklärung nachgewiesen bzw. nach summarischer Prüfung der Steuererklärung keine Bedenken gegen das Vorhandensein eines Gegenanspruchs bestünden. Dies läßt sich jedoch mit dem Sinn und Zweck der Stundungsregelung in § 222 AO 1977 nicht vereinbaren. Einer Vorlage der Steuererklärung bedarf es dann nicht, wenn das Bestehen des Gegenanspruchs auf andere Weise, etwa durch Vorlage von Urkunden oder durch anderweitige Glaubhaftmachung mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden kann. Dies gilt besonders für leicht überschaubare Sachverhaltsgestaltungen. Durch das generelle Abstellen auf die Vorlage einer Steuererklärung entziehen sich die Finanzbehörden ermessenswidrig der Beurteilung des Einzelfalles und der Prüfung, ob eine erhebliche Härte i. S. von § 222 AO 1977 vorliegt. Dies gilt ganz besonders in den Fällen, in denen -- wie im Streitfall -- die Vorlage einer Steuererklärung (noch) nicht möglich ist, weil z. B. der Veranlagungszeitraum noch nicht abgelaufen ist. Nach der hier von den Klägern beanstandeten Rechtsauffassung der Finanzbehörde würde in diesen Fällen eine Verrechnungsstundung schon wegen des nicht erfüllbaren Formerfordernisses (Vorlage der Steuererklärung) von vornherein nicht in Betracht kommen, und zwar auch dann nicht, wenn sich aus nachweisbaren bzw. glaubhaft zu machenden Umständen das Vorliegen eines Gegenanspruchs ohne weiteres ergibt. Der Senat sieht hierin eine unzulässige Verkürzung des der Finanzbehörde eingeräumten Ermessens und damit einen Ermessensfehlgebrauch, der im Streitfall zu der von den Klägern begehrten Feststellung führt.
Ob die Ablehnung des Stundungsbegehrens im Streitfall möglicherweise aus anderen Erwägungen, auf die die Finanzbehörde ihre Ermessensentscheidung bislang nicht gestützt hat, zu rechtfertigen ist, hat der Senat nicht zu entscheiden (§ 102 FGO).
Fundstellen