Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Anbringung des Einspruchs bei unzuständigem FA
Leitsatz (NV)
1. Wird die Einspruchsfrist dadurch versäumt, daß das zutreffend adressierte Einspruchsschreiben ,,irrtümlich" an ein anderes FA ,,geleitet" und von dort zu spät an das zuständige FA weitergeleitet wird, so ist Wiedereinsetzung nur zu gewähren, wenn den Rechtsbehelfsführer kein Verschulden an der fehlerhaften Anbringung des Einspruchs trifft. Das muß der Rechtsbehelfsführer grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist im einzelnen dartun und gegebenenfalls glaubhaft machen.
2. Hat das FA einen zu Recht als unzulässig erachteten Einspruch als unbegründet zurückgewiesen, ist dies im finanzgerichtlichen Verfahren zu berichtigen.
Normenkette
AO 1977 §§ 110, 357 Abs. 2, § 358 S. 2; FGO § 56
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist neben ihrem Prozeßbevollmächtigten Erbin nach ihrer im November 1987 verstorbenen Schwester . . . (Erblasserin). Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt X - FA -) erließ am 22.Januar 1990 einen die Einkünfte der Erblasserin im Streitjahr 1987 betreffenden Einkommensteuerbescheid, den er mit der üblichen Rechtsmittelbelehrung an die Miterben richtete. Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 17. Februar 1990 Einspruch ein. Das an das zutreffend bezeichnete FA unter Angabe der Steuernummer der Erblasserin gerichtete Einspruchsschreiben ist am 19. Februar 1990, einem Montag, beim FA Y eingegangen. Das FA Y leitete das Einspruchsschreiben am 28. Februar 1990 (Aschermittwoch) mit dem Postwagen der Oberfinanzdirektion (OFD), der das FA montags und mittwochs anfährt, an das FA weiter; am 26. Februar 1990 (Rosenmontag) war diese Postbeförderung entfallen.
Nachdem das FA mit Schreiben vom 9. März 1990 die Klägerin auf die verspätete Einlegung des Einspruchs hingewiesen hatte, beantragte diese am 30. März 1990 ohne Begründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Nach Aufforderung zur Begründung machte sie mit Schreiben vom 24. April 1990 geltend, der Einspruch sei ,,irrtümlich an das FA Y geleitet" worden; die dort mehr als sechs Arbeitstage verzögerte Übermittlung des Einspruchs an das FA könne ihr nicht zugerechnet werden. Während ihr Einspruch erfolglos blieb - das FA wies den für unzulässig erachteten Einspruch als unbegründet zurück - gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt.
Zwar trage der Steuerpflichtige grundsätzlich das Risiko, wenn er einen Rechtsbehelf bei einer unzuständigen Behörde einlege. Trete jedoch im weiteren Geschehensablauf ein Ereignis ein, das in den Verantwortungsbereich dieser Behörde falle, so könne Wiedereinsetzung gerechtfertigt sein. So liege es bei unterlassener oder verspäteter Weiterleitung des Einspruchs an die zuständige Behörde. Im Streitfall habe das FA Y die Weiterleitung schuldhaft verzögert, wie ausgeführt wird.
In der Sache selbst führe die Klage hinsichtlich eines zu Unrecht doppelt erklärten und besteuerten Kapitalbetrags von . . . DM zum Erfolg.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung des § 110 der Abgabenordnung (AO 1977).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. September 1986 II R 175/84, BFHE 147, 303, BStBl II 1986, 908, m.w.N.) und begründet. Die Revision greift durch, weil das FG rechtsfehlerhaft Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat.
Mit dem FG ist davon auszugehen, daß die Klägerin unstreitig die Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) versäumt hat. Der Einspruch war gemäß § 357 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 bei dem beklagten FA, das den angefochtenen Einkommensteuerbescheid erlassen hatte, anzubringen. Nach § 357 Abs. 2 Satz 5 AO 1977 ist die schriftliche Anbringung bei einer anderen Behörde - nur dann - unschädlich, wenn der Einspruch vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist der zuständigen Behörde übermittelt wird. Letzteres ist hier nicht rechtzeitig geschehen.
Das FG hat die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Fristversäumnis nach § 110 AO 1977 verkannt.
Gemäß Abs. 2 der Vorschrift war der innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellende Antrag auf Wiedereinsetzung gleichzeitig oder im Laufe des Verfahrens zu begründen und glaubhaft zu machen. Nach ständiger Rechtsprechung müssen Wiedereinsetzungsgründe im allgemeinen innerhalb der Antragsfrist im einzelnen vorgetragen werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 26. September 1985 IX B 11/83, BFH/NV 1986, 224, und vom 2. Juni 1989 X R 5/85, BFH/NV 1990, 117; Schwarz, Abgabenordnung, Kommentar, § 110 Rz.14 m.w.N.). Die Klägerin hat zwar, falls sie das geltend gemachte Versehen nicht schon früher bemerkt hatte, die Monatsfrist zur Antragstellung nach dem Hinweis des FA auf die Verspätung des Einspruchs gewahrt, aber diesen Antrag zunächst überhaupt nicht begründet. Ihr - nach Fristablauf - gegebener Hinweis darauf, daß der Einspruch irrtümlich an das FA Y geleitet worden sei, reicht zur Begründung nicht aus. Denn es hätte der Darlegung bedurft, wie es zu diesem Versehen kommen konnte. Ursächlich für die Versäumung der Einspruchsfrist war hier sowohl die der Klägerin zuzurechnende fehlerhafte Anbringung des Rechtsbehelfs als auch dessen, wie unterstellt werden kann, schuldhaft verzögerte Weiterleitung durch das FA Y. Die Klägerin hat nicht dargelegt, daß sie an ihrer Mitverursachung der Fristversäumnis kein Verschulden treffe.
Entgegen der Vorentscheidung kann die Fristversäumnis nicht allein deshalb als unverschuldet angesehen werden, weil sich die Weiterleitung des Einspruchs an das zuständige FA zu sehr verzögert hat. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Fristversäumnis des Rechtsbehelfsführers regelmäßig verschuldet, wenn ein zur Fristwahrung bestimmtes Schriftstück falsch adressiert ist oder - wie hier - jedenfalls an eine unzuständige Behörde übermittelt wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom 12. Januar 1968 VI R 140/67, BFHE 90, 395, BStBl II 1968, 121, und vom 17. November 1987 VIII R 346/83, BFHE 152, 5, BStBl II 1988, 287, Ziff.5 der Gründe, sowie Schwarz, a.a.O., Anm.6g und Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz.1870 und 1873/10, m.w.N.). Das Verschulden des Steuerpflichtigen kann dann darin bestehen, den Inhalt des Steuerbescheids nicht vollständig zur Kenntnis genommen zu haben. Denn amtliche Schreiben müssen gelesen und Rechtsbehelfsbelehrungen beachtet werden (BFH-Urteil in BFHE 147, 303, BStBl II 1986, 908; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 14. Aufl., § 110 AO 1977 Tz.4 am Ende).
Wiedereinsetzung ist in solchen Fällen nur zu gewähren, wenn den Rechtsbehelfsführer kein Verschulden an der fehlerhaften Anbringung trifft, weil er z.B. die unzuständige Behörde in entschuldbarer Unkenntnis der Verhältnisse für zuständig gehalten hat (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 1977 5 C 12.77, BVerwGE 55, 61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1978, 298; Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 7. April 1976 IV ZB 28/76, Versicherungsrecht 1976, 1155, und vom 9. Oktober 1980 VII ZB 17/80, HFR 1982, 30; Söhn/v.Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 110 AO 1977 Anm.32; § 357 AO 1977 Anm.15 am Ende; Tipke/Kruse, a.a.O., Tz.19a am Ende).
Letzteres ist hier nicht dargetan, geschweige denn glaubhaft gemacht. Die Klägerin kann dies im Revisionsverfahren auch nicht mehr nachholen (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 56 Rz.51). Ist ein Verschulden nicht auszuschließen, kommt Wiedereinsetzung nicht in Betracht (Gräber/Koch, a.a.O., § 56 Tz.69).
Das mit den vorstehenden Ausführungen unvereinbare FG-Urteil ist mithin aufzuheben. Gemäß § 126 Abs. 3 Nr.1 FGO ist die Klage als unbegründet abzuweisen (BFH-Urteile vom 11.Oktober 1977 VII R 73/74, BFHE 124, 1, BStBl II 1978, 154, und vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791). Soweit das FA den zu Recht als unzulässig erachteten Einspruch entgegen § 358 Satz 2 AO 1977 als unbegründet zurückgewiesen hat, war dies vom erkennenden Senat zu berichtigen.
Fundstellen
Haufe-Index 418720 |
BFH/NV 1993, 219 |