Leitsatz (amtlich)
1. Unter „dartun” i. S. des § 196 Abs. 1 AO ist dasselbe zu verstehen wie unter „glaubhaft machen” i. S. des § 161 AO 1977. Zur Glaubhaftmachung genügt ein geringerer Grad von Wahrscheinlichkeit als zum Beweis.
2. Nach § 196 Abs. 1 AO geht die Unaufklärbarkeit von Umständen zu Lasten des steuerpflichtigen Lagerinhabers.
Normenkette
AO § 196 Abs. 1; AO 1977 § 161
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) handelt mit Brennstoffen und läßt sich dabei durch eine GmbH vertreten. Diese schloß im April 1975 für die Klägerin mit einer KG eine Partnerschaftsvereinbarung, wonach die KG die Belieferung ihrer Kunden der Klägerin übertrug und sich verpflichtete, im Namen und für Rechnung der Klägerin Mineralöle zu verkaufen und in eigenen Fahrzeugen auszuliefern.
Im Rahmen dieser Vereinbarung übernahm die GmbH für die Klägerin das Heizöllager der KG. Zu diesem Zweck wurde am 23. April 1975 eine zollamtliche Istbestandsaufnahme durchgeführt, und nach deren Ergebnis der Anfangsbestand für das nunmehrige Heizöllager der Klägerin auf 37 750 l festgestellt Nachdem der steuerliche Betriebsleiter der GmbH am 6. Juni 1975 den Verdacht geäußert hatte, bei der Verwaltung des Heizöllagers durch die KG seien Unregelmäßigkeiten vorgekommen, fand am 25. Juni 1975 eine Bestandsaufnahme statt, bei der sich eine Fehlmenge von 82 561 l ergab. Für diese forderte der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt – HZA –) mit Bescheid vom 21. Oktober 1975 die Mineralölsteuer unter Berufung auf § 196 der Reichsabgabenordnung (AO) an. Durch Änderungsbescheid vom 21. Mai 1976 berichtigte das HZA die Fehlmenge auf 81 709 l.
Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage machte die Klägerin im wesentlichen geltend: Der Heizölbestand vom 23. April 1975 sei falsch ermittelt worden; es seien nur 1 200 l vorhanden gewesen. Die Behauptung des HZA, in der Zeit vom 1. bis 25. Juni seien 58 822 l in das Lager aufgenommen worden, sei nicht erwiesen. Die von der KG am 28. Mai 1975 an eine Genossenschaft gelieferten 30 078 l seien aus dem Lager entnommen worden, ohne daß der Abgang gebucht worden sei. Die KG habe mehrmals von ihrer Befugnis Gebrauch gemacht, bei den Heizöllieferern für die GmbH freigestellte Ware zu übernehmen, um sie entweder selbst zu verbrauchen oder im Rahmen der ihr verbliebenen Streckengeschäfte an ihre eigenen Kunden zu liefern; dabei habe sie die betreffenden Mengen in den Verwendungsanschreibungen der GmbH zwar als Zugang, nicht jedoch auch als Abgang gebucht Eine Fehlmenge liege somit nicht vor. Im übrigen verstoße die Steuernachforderung gegen Treu und Glauben. Die Zollverwaltung habe bei ihren Ermittlungen wichtige Belege und Unterlagen an die KG zurückgegeben und damit zu vertreten, daß sie – die Klägerin – ihre die Fehlmenge aufklärenden Darstellungen nicht näher konkretisieren und beweisen könne.
Nach der Klageerhebung setzte das HZA durch einen weiteren Änderungsbescheid vom 4. Mai 1977 die Fehlmenge auf 68 163 l herab und ermäßigte demgemäß den Steuerbetrag. Dieser Bescheid ist durch Antrag der Klägerin nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Verfahrens geworden.
Das Finanzgericht (FG) hob den Steuerbescheid vom 21. Oktober 1975 i. d. F. der Änderungsbescheide vom 21. Mai 1976 und vom 4. Mai 1977 sowie die Einspruchsentscheidung vom 23. November 1976 durch Urteil vom 23. Mai 1977 mit folgender Begründung auf:
Die Steuerbehörden hätten nach § 204 Abs. 1 Satz 1 AO die steuerpflichtigen Fälle zu erforschen und die Besteuerungsgrundlagen von Amts wegen zu ermitteln, nach § 204 Abs. 1 Satz 2 AO auch zugunsten des Steuerpflichtigen. Dieses Untersuchungsprinzip gelte auch im Rahmen des § 196 Abs. 1 AO. Diese Vorschrift enthalte allerdings eine den Betriebs- oder Lagerinhaber belastende (widerlegbare) Rechtsvermutung, die die amtliche Ermittlungspflicht in gewisser Weise einschränke. Die Steuerbehörden hätten das Recht, die Initiative des Steuerpflichtigen abzuwarten, denn es sei seine Sache, die Rechtsvermutung des § 196 Abs. 1 AO zu entkräften und der Behörde zu diesem Zweck Anregungen zu geben und ihr etwaige Bedenken dagegen mitzuteilen, daß die Fehlmenge durch steuerschuldbegründende Umstände verursacht worden sei. Im Rahmen dieser Anregungen und Bedenken des Steuerpflichtigen hätten die Behörden dann aber von Amts wegen den Sachverhalt zu ermitteln und die Zweifelsfragen zu klären. Dabei habe der Steuerpflichtige nach besten Kräften mitzuwirken, soweit er dazu verpflichtet sei, z. B. durch die §§ 166 ff. AO. Etwaige tatsächliche Unklarheiten, die nach Erfüllung der Ermittlungspflicht des Finanzamts (FA) und der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen noch verblieben, gingen zu Lasten des Steuerpflichtigen. Die allgemeine Grenze der amtlichen Ermittlungspflicht wie auch der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen sei die Zumutbarkeit; wo sie liege, sei unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalles nach Treu und Glauben zu entscheiden.
Der Betriebs- oder Lagerinhaber brauche nicht zu beweisen, daß die Fehlmenge auf Umstände zurückzuführen sei, die eine Steuerschuld in seiner Person nicht begründen. Es genüge, daß der Steuerpflichtige die Umstände zur Widerlegung der Rechtsvermutung „dartue”, also glaubhaft mache. Es reiche aus, daß der Steuerpflichtige alles in seiner Macht Liegende und ihm Zumutbare tue, um dem FA oder Gericht auf Grund freier Beweiswürdigung die Überzeugung von der Richtigkeit der Einlassung zu vermitteln, daß in seiner Person eine Steuerschuld nicht entstanden sei (Urteil des Reichsfinanzhofs – RFH – vom 20. Dezember 1935 IV A 195/35, Steuerrechtsprechung in Karteiform – StRK –, Reichsabgabenordnung 1931, § 196, Rechtsspruch 1). Diese Auslegung werde dadurch gestützt, daß die dem § 196 AO entsprechende Vorschrift des § 161 der Abgabenordnung (AO 1977) ebenfalls nur von „Glaubhaftmachung” spreche.
Daraus ergebe sich für den Streitfall:
Die von der Klägerin gegebenen Hinweise und Vermutungen seien nur zum Teil geeignet darzutun, daß die Fehlmenge eine Steuerschuld nicht begründet habe. Trotzdem habe die Klage Erfolg.
Von der dem letzten Änderungsbescheid vom 4. Mai 1977 zugrunde gelegten Fehlmenge von 68 163 l seien 43 und 5 750 l als aufgeklärt abzusetzen, so daß noch 62 370 l verblieben. Auch diese Menge sei nicht zu versteuern.
Die KG sei berechtigt gewesen, Heizöl, das für die GmbH freigestellt gewesen sei, bei deren Lieferern für eigene Kundenbelieferungen im Streckengeschäft zu übernehmen.
Wieviele derartige Streckengeschäfte die KG vom 23. April bis zum 25. Juni 1975 ausgeführt habe, ob und in welchem Umfang dabei unzutreffende Zugangsbuchungen ohne entsprechende Abgangsbuchungen in den Tanklager-Mengenabrechnungen der GmbH vorgenommen worden seien, könne das FG nicht prüfen. Auch die aus Streckengeschäften der GmbH zum Verbrauch durch die KG übernommenen, nicht verbuchten Heizölmengen könne das FG nicht ermitteln. Das HZA und die Zollfahndung hätten versäumt, das Verwendungsbuch und die beweiserheblichen Belege der KG rechtzeitig sicherzustellen. Das Verwendungsbuch der KG sei verschwunden und ihre Geschäftsunterlagen seien so unvollständig und ungeordnet, daß sie für eine Prüfung nicht mehr verwendet werden könnten.
Welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien, sei nach den eingangs dargestellten grundsätzlichen Erwägungen zu entscheiden. Die Klägerin und die GmbH hätten alles in ihren Kräften Stehende und ihnen Zumutbare getan, um die Rechtsvermutung des § 196 Abs. 1 AO zu widerlegen. Von ihnen sei nichts anderes zu erwarten gewesen, als daß sie die zuständigen Behörden auf ihren Verdacht aufmerksam gemacht und Anregungen und Hinweise zur Sachaufklärung gegeben hätten. Sie hätten sich darauf verlassen dürfen und müssen, daß die Zollverwaltung alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen würde. Insbesondere hätten sie hoffen dürfen, daß die Geschäftsunterlagen und das Verwendungsbuch der KG sichergestellt und im Hinblick auf den mitgeteilten Verdacht eingehend überprüft würden.
Daß das nicht geschehen sei, sei schlechtweg unverständlich. Besonders wegen des Nebeneinanders des Verteilerverkehrs der GmbH und der Streckengeschäfte der KG (letztere sogar mit Heizöl der GmbH) habe sich eine Prüfung der Verdachtsmomente an Hand des Verwendungsbuches der KG und ihrer Geschäftsunterlagen regelrecht aufgedrängt Statt dessen habe sich das HZA darauf beschränkt, das Verwendungsbuch abzuschließen und die sich ergebende Fehlmenge an Heizöl zu berechnen. Es habe nicht verhindert, daß das Buch habe verschwinden können und die beweiserheblichen Belege in einen nicht mehr überprüfbaren Zustand geraten seien. Es müsse sich entgegenhalten lassen, daß es den Hinweisen und Anregungen nicht ausreichend nachgegangen sei. Mit Rücksicht auf Treu und Glauben sei daher festzustellen, daß das HZA seine Ermittlungspflicht nicht bis zur Grenze des Zumutbaren erfüllt habe.
Mit der Revision macht das HZA geltend:
Das FG habe § 196 AO falsch angewendet Es habe zu Unrecht an die Mitwirkungspflicht der Klägerin nur geringe, an seine – des HZA – Pflichten über die Grenzen des Zumutbaren hinausgehende Anforderungen gestellt
Das HZA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, und macht sich die Begründung des FG in dessen Urteil zu eigen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils, weil dieses auf einer falschen Auslegung des § 196 AO beruht, und zur Zurückverweisung der nicht entscheidungsreifen Sache an das FG.
Wenn sich bei Bestandsaufnahmen über verbrauchsteuerbare Erzeugnisse in einem Steuerlager Fehlmengen ergeben, hat nach § 196 Abs. 1 AO der Lagerinhaber die auf die Fehlmengen entfallenden Verbrauchsteuern zu entrichten, „soweit nicht dargetan wird” daß die Fehlmengen auf Umstände zurückzuführen sind, die eine Steuerschuld in der Person des Lagerinhabers nicht begründen. Die Steuerschuld gilt nach § 196 Abs. 2 AO im Zweifel als entstanden im Zeitpunkt der Bestandsaufnahme. Die Bedeutung des § 196 AO besteht darin, daß er mit Hilfe der in seiner Formulierung enthaltenen gesetzlichen Vermutung eine vom sonstigen Ermittlungs- und Feststellungsverfahren abweichende Erleichterung zuläßt, auf Grund deren in diesen Fällen eine etwaige Unaufklärbarkeit des Steuertatbestandes als Folge der gesetzlichen Vermutung zu Lasten des Steuerpflichtigen und nicht zu seinen Gunsten geht. Der Grund für diese Regelung besteht darin, daß das Risiko eines auf der steuerbegünstigten Lagerhaltung beruhenden Steuerausfalls vom Lagerinhaber, nicht aber von der Allgemeinheit getragen werden soll (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 12 Oktober 1960 VII 11/60 U, BFHE 72, 22, BStBl III 1961, 9, Bundeszollblatt 1961 S. 156 – BZBl 1961, 156 –).
Um der Pflicht zur Entrichtung der Verbrauchsteuern für die Fehlmengen zu entgehen, muß der Lagerinhaber nach § 196 Abs. 1 AO „dartun”, daß die Fehlmengen auf Umstände zurückzuführen sind, die eine Steuerpflicht in seiner Person nicht begründen. Der erkennende Senat folgt der Auffassung des FG, daß unter „dartun” i. S. des § 196 Abs. 1 AO dasselbe zu verstehen ist wie unter „glaubhaft machen” i. S. des § 161 AO 1977. Das Glaubhaftmachen dient wie der Beweis der Überzeugungsbildung, läßt jedoch im Verhältnis zu diesem einen geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit genügen. Eine Tatsache ist nach allgemeiner Auffassung glaubhaft gemacht, wenn sie überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. Entscheidung des BFH vom 10. Juli 1974 I R 223/70, BFHE 113, 209, BStBl II 1974, 736; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 38. Aufl., § 294 Anm. 1 A). Es ist kein Grund ersichtlich, vom „Dartun” ein anderes Maß von Wahrscheinlichkeit zu verlangen. Die Ausführungen des Steuerpflichtigen zu den Fehlmengen müssen demnach die Verursachung der Fehlmengen durch bestimmte Umstände zum Gegenstand haben und durch ihre überwiegende Wahrscheinlichkeit der Zollbehörde die Überzeugung verschaffen, daß sie zutreffen.
Das FG hat indessen verkannt, daß § 196 AO – wie oben bereits ausgeführt – auch eine Beweislastregelung enthält, die dazu führt, daß die Unaufklärbarkeit von Umständen zu Lasten des Steuerpflichtigen geht Nicht zugestimmt werden kann daher seiner Ansicht, zur Entkräftung der Vermutung des § 196 AO genüge es, wenn der Lagerinhaber der Behörde „Anregungen” gebe und ihr etwaige „Bedenken dagegen mitteile, daß die Fehlmenge durch steuerschuldbegründende Umstände verursacht worden sei; im Rahmen dieser „Anregungen” und Bedenken” habe die Behörde (und demnach auch das FG) dann von Amts wegen den Sachverhalt zu ermitteln und die Zweifelsfragen zu klären, wobei der Lagerinhaber „nach besten Kräften” mitzuwirken habe, soweit er dazu verpflichtet sei, z. B. durch die §§ 166 ff. AO. ZurEntkräftung dergesetzlichen Vermutung über die Entstehung der Steuerschuld kann ein solches distanziertes Verhalten desjenigen, der über den Verbleib der Lagerbestände verfügt hat, nicht genügen, weil dann entgegen dem Zweck der gesetzlichen Vermutung deren Widerlegung zur Aufgabe der Behörde gemacht würde.
Das FG hat somit seiner Entscheidung eine unzutreffende Auffassung über die durch § 196 AO getroffene Beweislastregelung und über das Verhältnis der Aufgaben zugrunde gelegt, die im Falle des § 196 AO der Lagerinhaber und das FG hinsichtlich der Aufklärung der Umstände zu erfüllen haben, die zu der Fehlmenge geführt haben. Es hätte deshalb prüfen müssen, ob es überwiegend wahrscheinlich ist, daß die Fehlbestände nicht entstanden oder auf Vorgänge zurückzuführen sind die keine Steuerschuld entstehen ließen, und im Zweifelsfalle zuungunsten der Klägerin entscheiden müssen. Da das die Würdigung von Tatsachen bedeutet, kann der Senat als Revisionsgericht nicht selbst entscheiden, sondern nur die Sache an das FG zurückverweisen.
Bei der erneuten Prüfung kann keine Rolle spielen, daß die Klägerin das Lager von der KG verwalten ließ und sie deshalb keine eigenen Unterlagen über den Heizölumschlag des Lagers besitzt, die ihr ermöglichten konkrete Angaben über die Ursachen der Fehlmenge zu machen Denn § 196 AO stellt nicht darauf ab, ob der Lagerinhaber sein Lager selbst oder durch einen Dritten verwaltet. Es ist deshalb auch unerheblich, ob die Zollverwaltung bei der KG vorgefundene Belege und Unterlagen zugunsten der Klägerin hätte sicherstellen müssen, um dieser die Möglichkeit für konkrete Angaben über die Ursachen der Fehlmenge zu erhalten. Der durch das Verschwinden des Verwendungsbuchs der KG und durch die Unzulängligkeit der verbliebenen übrigen Geschäftsunterlagen der KG möglicherweise entstandene Beweisnotstand der Klägerin hat seine Ursache in deren Verantwortungsbereich, da die KG von der Klägerin betraut worden war, in deren Namen und für deren Rechnung Mineralöle zu verkaufen und auszuliefern die Klägerin also das Nebeneinander ihres Verteilerverkehrs und der Streckengeschäfte der KG selbst herbeigeführt hatte. Unter diesen Umständen besteht kein Raum für die Annahme des FG, nach Treu und Glauben müsse das HZA die Nachteile daraus tragen, daß die Streckengeschäfte der KG nicht mehr überprüft werden können.
Fundstellen