Reichweite der Altvertragsklausel beim Russland-Embargo
Hintergrund: Einfuhr von Munition aus Russland
Der Entscheidung kommt – über die zollrechtliche Problematik hinaus – allgemeine Bedeutung zu. Streitig war, ob mehrere Einfuhren von Munition aus Russland unter die sog. Altvertragsklausel des § 77 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) fallen und daher vom Einfuhrverbot des § 77 Abs. 1 Nr. 6 AWV ausgenommen sind. Nach der Altvertragsklausel gilt das Einfuhrverbot nicht für die Erfüllung von vor dem 1.8.2014 geschlossenen Verträgen.
Die X (Händlerin mit Sport- und Jagdwaffen) bezog in 2016 von der russischen C-Gesellschaft Munition. Die Vertragslaufzeit war bis 31.12.2012 vereinbart. Aufgrund mehrerer Änderungsverträge (Supplements) war jedoch die Laufzeit bis 31.12.2017 verlängert worden.
Das Hauptzollamt (HZA) vertrat die Auffassung, die Lieferungen unterlägen dem Einfuhrverbot, da sie in 2016 (also nach dem 31.8.2014) ausgeführt wurden. Die Verlängerung der Vertragslaufzeit bis 2017 mit dem Supplement vom Dezember 2014 werde als Neuvertrag gewertet, so dass die Ausnahme der Altvertragsklausel nicht greife.
Dagegen wandte X ein, der ursprüngliche Vertrag aus 2011 sei (als Altvertrag) weiterhin Grundlage der Lieferungen gewesen. Dem späteren Supplement komme keine konstitutive Wirkung zu.
Das FG wies die Klage ab. Der Vertrag von 2011 sei als Rahmenvertrag zu verstehen, der für sich genommen keine Verkaufsverpflichtung begründe. Eine konkrete Lieferverpflichtung sei jeweils erst mit einer bestimmten Bestellung von Patronen entstanden. Die insoweit erforderlichen Kenntnisse des russischen Zivilrechts habe sich das FG durch das von der X vorgelegte Gutachten eines Universitätsprofessors selbst erschlossen.
In 2018 (während des Revisionsverfahrens) wurde die Munition (legal) ausgeführt. X erklärte darauf das ursprüngliche Klagebegehren für erledigt und beantragte nunmehr festzustellen, dass die Bescheide des HZA v. Dezember 2016 rechtswidrig waren. Sie habe an dieser Feststellung ein berechtigtes Interesse, da das in dem Vertrag v. 2011 vereinbarte Munitions-Kontingent noch nicht ausgeschöpft sei.
Entscheidung: Ermittlung des ausländischen Rechts durch das FG
Der BFH verwies die Sache an das FG zurück. Dieses muss die Feststellung nachholen, ob mit dem Vertrag v. 2011 bereits konkrete vertragliche Leistungspflichten begründet wurden.
Widerruf der Annahme einer Zollanmeldung
Im Streitfall kommt ein Widerruf nach Art. 28 UZK (betr. Widerruf begünstigender Entscheidungen) in Betracht. Dass das HZA den Widerruf auf Art. 27 UZK (betr. Rücknahme) gestützt hat, ist unerheblich. Die Bezeichnung einer unzutreffenden Änderungsvorschrift ist unbeachtlich.
Auslegung der Altvertragsklausel
Die Entstehungsgeschichte ergibt, dass die Altvertragsklausel dahin zu verstehen ist, dass sie nur für Verträge gilt, mit denen vor dem 1.8.2014 bereits konkrete vertragliche Leistungspflichten begründet, aber noch nicht oder noch nicht vollständig erfüllt worden sind. Dagegen fallen Verträge, mit denen erst nach dem 1.8.2014 eigene Leistungspflichten begründet werden, nicht unter die Altvertragsklausel.
Vertragsauslegung durch das FG nach russischem Recht
In dem Vertrag v. 2011 wurde die Anwendung russischen Rechts vereinbart. Ob sich aus den Vereinbarungen, die vor dem 1.8.2014 geschlossen wurden, bereits konkrete vertragliche Leistungspflichten ergeben, kann nur nach Maßgabe der vertraglichen Regelungen und des anwendbaren russischen Rechts bestimmt werden. Die Ermittlung des ausländischen Rechts obliegt dem FG als Tatsacheninstanz und ist für den BFH grundsätzlich bindend (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 560 ZPO; BFH v. 19.1.2017, IV R 50/14, BStBl II 2017, 456). Wie das FG das ausländische Recht ermittelt, steht dabei grundsätzlich in seinem pflichtgemäßen Ermessen. An die Ermittlungspflicht sind jedoch umso höhere Anforderungen zu stellen, je komplexer oder je fremder das anzuwendende Recht im Vergleich zum eigenen Recht ist (BFH v. 22.3.2018, X R 5/16, BStBl II 2018, 651).
Zurückverweisung an das FG zur weiteren Ermittlung des russischen Vertragsrechts
Die revisionsrechtliche Bindungswirkung entfällt allerdings, soweit die erstinstanzlichen Feststellungen zum ausländischen Recht nicht hinreichend fundiert sind. Es liegt dann ein materieller Mangel der Vorentscheidung vor (BFH v. 19.1.2017, IV R 50/14, BStBl II 2017, 456). So liegt der Fall hier. Das FG hat sich auf nur eine einzige Erkenntnisquelle zum russischen Recht (ein Gutachten) bezogen. Es hätte von Amts wegen weitere Ermittlungen anstellen und entweder amtliche Auskünfte einholen oder ein weiteres Rechtsgutachten in Auftrag geben müssen. Das FG wird dies nachzuholen haben.
Hinweis: Präzisierung der Amtsermittlungspflicht
Dem FG steht bei der Ermittlung ausländischen Rechts grundsätzlich ein gewisses Ermessen zu. Bei unübersichtlicher und fremder Rechtslage besteht für das FG eine gesteigerte Ermittlungspflicht, sich auf die Umsetzung in der ausländischen Rechtspraxis und Rechtsprechung erstreckt. Sind die Feststellungen nicht schlüssig begründet, liegt ein materieller Rechtsfehler vor. Ein Verfahrensmangel ist gegeben, wenn das FG das ihm eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt und die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen nicht genutzt hat (BFH v. 19.11.2017, IV R 50/14, BStBl II 2017, 456).
Feststellungsinteresse
Die Entscheidung betrifft eine sog. Fortsetzungsfeststellungsklage i.S.v. § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO. X konnte, nachdem sich die angefochtenen Rücknahmebescheide aufgrund der Wiederausfuhr der Munition erledigt hatten, zu dieser Klageart übergehen. Denn X beabsichtigte, auf der Grundlage des "Altvertrags" v. 2011 weitere Einfuhren vorzunehmen.
BFH Urteil vom 19.10.2021 - VII R 7/18 (veröffentlicht am 10.02.2022)
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