Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Anspruch des Sozialhilfeträgers auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld wegen der dem Kind erbrachten Sozialhilfeleistungen
Leitsatz (amtlich)
Ein Anspruch des Sozialhilfeträgers auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld setzt voraus, dass das Kindergeld zum Einkommen des Hilfeempfängers gehört, dem der Sozialhilfeträger Sozialhilfeleistungen erbracht hat. Hat der Sozialhilfeträger einem im eigenen Haushalt lebenden Kind Hilfe zum Lebensunterhalt geleistet, hat er in der Regel keinen Anspruch auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld, weil das Kindergeld zum Einkommen des anspruchsberechtigten Elternteils gehört. Dem Einkommen des Kindes kann das Kindergeld nur zugeordnet werden, wenn es ihm aufgrund einer förmlichen Abzweigung ausgezahlt wird oder ihm zumindest tatsächlich zufließt.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 3; SGB X § 104 Abs. 1-2, § 107 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) bezieht eine Altersrente. Für seine im Jahr 1964 geborene, zu 100 v.H. behinderte Tochter, die seit Juni 1997 in einer eigenen, von ihr angemieteten Wohnung lebt, erhielt der Kläger Kindergeld. Das Kindergeld rechnete das Sozialamt der Stadt X (Beigeladene) auf die der Tochter gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) als Einkommen an. Den Antrag der Tochter auf Abzweigung des Kindergeldes wies die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) im August 1997 ab.
Durch Bescheid vom 26. März 1998 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab Januar 1997 auf. Mit Bescheid vom 24. Januar 2001 setzte sie rückwirkend ab April 1998 wieder Kindergeld fest, wobei sie mit Abrechnungsbescheid vom selben Tag erklärte, für den Zeitraum April 1998 bis Januar 2001 gelte der Anspruch auf Kindergeld in Höhe von 8 490 DM (= 4 340,87 €) nach § 74 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- (ab 1. Januar 2002: § 74 Abs. 2 EStG) i.V.m. § 107 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) als erfüllt. Die Beigeladene habe in dieser Höhe einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. §§ 103, 104 SGB X geltend gemacht, da sie der Tochter für den Zeitraum April 1998 bis Januar 2001 HLU ohne Anrechnung von Kindergeld gezahlt habe. Der Einspruch des Klägers war erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte im Wesentlichen aus, der Anspruch des Klägers auf Kindergeld gelte aufgrund der Erstattung an die Beigeladene als erloschen (§ 107 SGB X). Soweit das Kindergeld --wie im Streitfall-- ausschließlich der Förderung der Familie diene, handle es sich um eine mit der HLU zweckidentische Leistung und damit um Einkommen i.S. von §§ 76, 77 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), das auf die HLU anzurechnen sei, und zwar auch dann, wenn die HLU nicht für den Kindergeldberechtigten, sondern für das Kind erbracht werde. Da das Kindergeld gegenüber der HLU vorrangig sei, bestehe nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 und 2 SGB X ein Anspruch der Beigeladenen auf Erstattung des rückwirkend festgesetzten Kindergeldes.
Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Er beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Familienkasse vom 24. Januar 2001 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2002 aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Abrechnungsbescheids vom 24. Januar 2001 und der Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2002 (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Aufhebung des Abrechnungsbescheids hat zur Folge, dass das festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum April 1998 bis Januar 2001 an den Kläger auszuzahlen ist. Einer ausdrücklichen Verpflichtung der Familienkasse durch den Senat bedarf es nicht.
Der Abrechnungsbescheid ist rechtswidrig, weil der Anspruch des Klägers auf Kindergeld mangels Erstattungsanspruchs der Beigeladenen nicht als erfüllt gilt.
1. Nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. § 107 Abs. 1 SGB X gilt der Anspruch des Klägers gegen die Familienkasse auf Kindergeld nur als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch der Beigeladenen besteht. Entgegen der Auffassung des FG hat die Beigeladene keinen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 SGB X.
a) Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht --ohne dass die hier nicht einschlägigen Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen--, ist nach § 104 Abs. 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungserfüllung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Nach § 104 Abs. 2 SGB X gilt § 104 Abs. 1 SGB X auch dann, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger für den Angehörigen eines Berechtigten Sozialleistungen erbracht hat und der Berechtigte mit Rücksicht auf diesen Angehörigen einen Anspruch auf Sozialleistungen gegen einen vorrangig verpflichteten Leistungsträger hat.
b) Der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 2 SGB X ist kein von den Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X unabhängiger Erstattungsanspruch eigener Art, sondern erweitert diesen nur. Daher kann ein Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 2 SGB X nur dann gegeben sein, wenn auch die Anspruchsvoraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X vorliegen (Urteil des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 22. September 1988 2 RU 9/88, BSGE 64, 96). Die Leistungen der unterschiedlichen Leistungsträger müssen deshalb gleichartig sein und es muss zwischen ihnen ein Verhältnis von vorrangiger und nachrangiger Verpflichtung zur Leistung bestehen.
c) Nach der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte ist das Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG, soweit es der Familienförderung dient, wie die HLU dazu bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu mindern (Urteile des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 21. Juni 2001 5 C 7/00, BVerwGE 114, 339, und vom 28. April 2005 5 C 28/04, Neue Juristische Wochenschrift 2005, 2873; des BSG vom 8. Februar 2007 B 9b SO 6/06 R, BFH/NV 2007, Beilage 4, 476, und des Bundesfinanzhofs vom 14. Mai 2002 VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156), so dass es sich in den Fällen, in denen das Kindergeld dem Einkommen des Hilfeempfängers zuzuordnen ist, um eine mit der HLU gleichartige und auch vorrangige Leistung handelt. Bezieht der Hilfeempfänger Kindergeld, ist dieses daher bei der Ermittlung der HLU als Einkommen i.S. des § 76 BSHG anzurechnen und mindert dementsprechend die HLU. Wird rückwirkend Kindergeld festgesetzt, kann der Sozialleistungsträger das Kindergeld erstattet verlangen.
Ist Hilfeempfänger dagegen nicht der Elternteil, der Anspruch auf das Kindergeld hat, sondern das im eigenen Haushalt lebende Kind, ist das Kindergeld nur dann als Einkommen des Kindes anzurechnen, wenn das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG an das Kind abgezweigt wird (vgl. BVerwG-Urteil vom 17. Dezember 2003 5 C 25/02, BFH/NV 2005, Beilage 1, 68) oder ihm zumindest tatsächlich zufließt (streitig, vgl. z.B. Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg --LSG Ba-Wü-- vom 13. Dezember 2006 L 7 SO 3131/06, juris; Revision, Az. B 8/9b SO 2/07 R).
d) Im Streitfall ist das Kindergeld dem Einkommen des Klägers zuzurechnen. Vor der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung im März 1998 war das Kindergeld an ihn ausgezahlt worden. Einen Antrag der Tochter auf Abzweigung des Kindergeldes hatte die Familienkasse im August 1997 abgelehnt. Daher steht ihm das rückwirkend festgesetzte Kindergeld als Anspruchsberechtigtem zu.
Das Kindergeld kann auch nicht deshalb als Einkommen der Tochter behandelt werden, weil sie möglicherweise einen Anspruch auf Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG gehabt hätte. Denn dem sozialhilferechtlichen Einkommen i.S. des § 76 BSHG können nur solche Beträge zugeordnet werden, die dem Hilfeempfänger auch tatsächlich gegenwärtig für seinen Unterhalt zur Verfügung stehen. Es kommt allein auf den tatsächlichen Zufluss von Geld und Geldeswert an (vgl. Urteil des LSG Ba-Wü vom 13. Dezember 2006 L 7 SO 3131/06, juris). Die Tochter ist auch rechtlich nicht verpflichtet, sich durch einen (erneuten) Abzweigungsantrag anrechenbares Einkommen i.S. des § 76 BSHG zu verschaffen (BSG in BFH/NV 2007, Beilage 4, 476).
Aus § 104 Abs. 2 SGB X kann keine materiell-rechtliche Regelung abgeleitet werden, dass das dem Anspruchsberechtigten zustehende Kindergeld auf das Einkommen des Kindes anzurechnen ist. Bei den §§ 102 ff. SGB X handelt es sich lediglich um rechtstechnische Vorschriften, die den Ausgleich zwischen Leistungsträgern regeln. Ob die Merkmale der Gleichartigkeit und des Vor- und Nachrangs der Leistungsverpflichtung erfüllt sind, ergibt sich ausschließlich aus dem BSHG und den kindergeldrechtlichen Vorschriften.
2. Ob der Leistungsträger, der dem Kind HLU gewährt hat, in Fällen rückwirkender Festsetzung von Kindergeld nachträglich eine Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG beantragen kann, ist im Streitfall nicht zu entscheiden.
3. Da die Revision des Klägers Erfolg hat, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit seiner Verfahrensrüge.
Fundstellen
Haufe-Index 2020595 |
BFH/NV 2008, 1577 |
BFH/PR 2008, 431 |
BStBl II 2009, 919 |
BFHE 2009, 47 |
BFHE 221, 47 |
DB 2008, 1722 |
DStRE 2008, 1258 |
DStZ 2008, 587 |
HFR 2008, 1041 |