Keine Kostenerstattung im Einspruchsverfahren wegen Hinterziehungszinsen
Hintergrund: Erfolgreicher Einspruch gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen
Streitig war die Kostenerstattung nach § 77 EStG. Die X hatte zu Unrecht Kindergeld bezogen (16.800 EUR). Die Familienkasse setzte deshalb gegen sie Hinterziehungszinsen fest (rund 2.100 EUR). Der gegen die Zinsfestsetzung gerichtete Einspruch war erfolgreich. Die Familienkasse hob die Zinsfestsetzung auf und entschied zugleich, die der X im Einspruchsverfahren entstandenen Aufwendungen seien nicht zu erstatten. Denn nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei eine Kostenerstattung nur im Einspruchsverfahren gegen die Kindergeldfestsetzung selbst vorgesehen, nicht auch im damit zusammenhängenden Verfahren gegen die Zinsfestsetzung.
Das FG gab der gegen die Kostenentscheidung erhobenen Klage statt und verpflichtete die Familienkasse zur Erstattung der Aufwendungen. § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei analog anzuwenden.
Entscheidung: Keine analoge Anwendung von § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG
Der BFH widerspricht dem FG. Es besteht kein Anspruch auf Kostenerstattung analog § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG.
Wörtliche Auslegung
§ 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ist seinem Wortlaut nach nicht anwendbar. Denn im Streitfall fehlt an einem erfolgreichen Einspruch "gegen die Kindergeldfestsetzung". Voraussetzung für die Kostenerstattung ist ein erfolgreicher Einspruch in einem das Kindergeld (nicht die Zinsentscheidung) betreffenden Festsetzungsverfahren nach §§ 70, 72 EStG. Dementsprechend ist § 77 EStG z.B. auch bei Billigkeitsentscheidungen in Kindergeldsachen nicht anwendbar (BFH v. 9.12.2010, III B 115/09, BFH/NV 2011, 434). Auch bei der Frage, ob Hinterziehungszinsen festzusetzen sind, wird nicht zusätzlich über die Kindergeldfestsetzung entschieden. Denn für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen ist allein maßgebend, ob der subjektive und objektive Tatbestand der Strafrechtsnorm sowie die Rechtswidrigkeit und die Schuld zu bejahen sind.
Keine analoge Anwendung des § 77 EStG
Mit der Neuregelung des Kindergelds durch das JStG 1996 wurde § 77 EStG in das EStG aufgenommen. Dabei war beabsichtigt, eine dem § 63 SGB X entsprechende Vorschrift zu schaffen (BT-Drs. 13/1558, S. 162). § 63 Abs. 1 Satz 1 EStG bestimmt für das Sozialverwaltungsverfahren grundsätzlich die Kostenerstattung. § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sieht jedoch die Erstattungspflicht nicht allgemein für Einspruchsverfahren in Kindergeldangelegenheiten vor, sondern nur für den Fall des erfolgreichen Einspruch gegen eine Kindergeldfestsetzung (BFH v. 26.6. 2014, III R 39/12, BStBl II 2015, 148).
Die Kostenerstattungspflicht bei Kindergeldsachen kann daher nicht extensiv ausgelegt werden (BFH v. 9.12.2010, III B 115/09, BFH/NV 2011, 434). Aus der Gesetzesbegründung wird vielmehr erkennbar, dass der Gesetzgeber nicht in sämtlichen das Kindergeld nur am Rande betreffenden Verfahren eine Kostenerstattungspflicht regeln wollte. Er wollte in erster Linie eine Gleichstellung bei den bisher im SGB X verankerten Kostenerstattungsfällen erreichen, soweit es um erfolgreiche Einsprüche gegen Kindergeldfestsetzungen geht. Geht es dagegen nicht um Fragen der Leistungsgewährung im weitesten Sinne, war eine Gleichstellung auch im Hinblick auf die vor 1996 getroffenen Regelungen im Sozialrecht nicht erforderlich.
Gleichheitsgesichtspunkte
Auch im Hinblick auf die Rechtsnatur der Kindergeldregelungen ist die Ausdehnung der Ausnahmeregelung des § 77 EStG auf Verfahren, die vergleichbaren steuerlichen Verwaltungsverfahren entsprechen, nicht geboten. Eine unterschiedliche Behandlung der Kostenerstattungspflicht, je nachdem ob es darum geht, ob eine Steuer oder eine Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) hinterzogen worden ist, ist sachlich nicht zu rechtfertigen. Es kann jedenfalls nicht mit Gewissheit festgestellt werden, dass es der Gesetzgeber planwidrig unterlassen hat, die Kostenerstattungspflicht auch auf Fälle auszudehnen, die mit der Kindergeldfestsetzung an sich nichts zu tun haben. Ein Versehen des Gesetzgebers ist nicht erkennbar. Eine analoge Anwendung des § 77 EStG auf das Einspruchsverfahren gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen scheidet daher aus.
Die analoge Anwendung durch die Rechtsprechung betrifft mit dem Streitfall nicht vergleichbar Fälle
Soweit die Rechtsprechung § 77 EStG erweiternd ausgelegt hat, umfasst dies grundsätzlich nur mit dem Streitfall nicht vergleichbare Fälle, in denen der Verfahrensgegenstand mit einer (erfolgreichen) Kindergeldfestsetzung zusammenhing (Festsetzungs-, Ablehnungs-, Aufhebungs- Rückforderungsbescheide; Untätigkeitseinsprüche, mit dem Ziel einer Kindergeldfestsetzung; Abzweigungsbescheide nach § 74 EStG). Die ausnahmsweise bejahte analoge Anwendung des § 77 EStG bei der Anfechtung eines Abrechnungsbescheids nach § 218 AO hat der BFH damit begründet, dass die Auswirkungen einer Abzweigungsentscheidung der Familienkasse (§ 74 Abs. 1 EStG) und eines Abrechnungsbescheids wegen des Erstattungsanspruchs eines Trägers von Sozialleistungen (§ 74 Abs. 2 EStG) sich gleichen.
Hinweis: Grenzen einer analogen Anwendung
Eine zur analogen Anwendung führende Regelungslücke liegt vor, wenn eine Vorschrift - gemessen an ihrem Zweck - unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Hiervon zu unterscheiden ist der "rechtspolitische Fehler", der vorliegt, wenn sich eine gesetzliche Regelung zwar als rechtspolitisch verbesserungsbedürftig, aber doch nicht als planwidrig unvollständig und ergänzungsbedürftig erweist (BFH v. 26.6.2002, IV R 39/01, BStBl II 2002, 697). Ob eine Regelungslücke anzunehmen ist, ist unter Heranziehung des Gleichheitsgrundsatzes zu ermitteln, wobei für den Vergleich auf die Wertungen des Gesetzes, insbesondere die Entstehungsgeschichte zurückzugreifen ist. Hiervon ausgehend ließ der BFH offen, ob im Streitfall tatsächlich eine Regelungslücke vorliegt. Es fehlt jedenfalls an der Planwidrigkeit.
BFH Urteil vom 01.09.2021 - III R 18/21 (veröffentlicht am 18.11.2021)
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