Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionsrücknahme ohne Zustimmung des Revisionsbeklagten; gerichtliche Zulassung verspäteten Vorbringens grundsätzlich nicht revisibel
Leitsatz (NV)
1. Versagt der Revisionsbeklagte seine Zustimmung zur Rücknahme der Revision, ist über sie auch dann sachlich zu entscheiden, wenn der Revisionskläger seinen Revisionsantrag nicht aufrechterhält (Bestätigung des BFH-Urteils vom 29. April 1992 XI R 5/90, BFHE 168, 161, BStBl II 1992, 969).
2. Hat das FG im Rahmen des ihm gemäß §76 Abs. 3 Satz 1 FGO eingeräumten Ermessens entschieden, daß es Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der von der Finanzbehörde nach §364b AO 1977 gesetzten Frist im Einspruchsverfahren oder im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden, nicht zurückweisen will, so ist dies vom BFH in der Revisionsinstanz grundsätzlich als verbindlich hinzunehmen (Bestätigung des Senatsurteils vom 17. Dezember 1997 I R 47/97, BFHE 185, 21, BStBl II 1998, 269).
Normenkette
AO 1977 § 364b; FGO § 76 Abs. 3, § 79b Abs. 3, § 125 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Da die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) für das Streitjahr 1994 keine Steuererklärungen abgab, erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) die Steuerbescheide aufgrund geschätzter Besteuerungsgrundlagen. Während des Einspruchsverfahrens forderte das FA die Klägerin auf, die Einsprüche zu begründen, und setzte ihr gemäß §364b Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) zur Erledigung eine Frist. Da die Klägerin die Steuererklärungen innerhalb der gesetzten Frist nicht abgab, wies das FA die Einsprüche als unzulässig zurück. Im Anschluß daran reichte die Klägerin die entsprechenden Steuererklärungen nach.
Das Finanzgericht (FG) verzichtete seinerseits auf die Zurückweisung der Steuererklärungen gemäß §76 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 987 wiedergegebenen Urteil statt. Zumindest in jenen Fällen, in denen -- wie vorliegend -- die Steuererklärungen noch vor Klageerhebung dem FA vorgelegt würden, sei mit einer Verfahrensverzögerung nicht zu rechnen; dem FA stünde hinreichend Zeit zur Verfügung, um die Erklärungen zu prüfen und -- wie ebenfalls vorliegend -- bei unstreitigen Besteuerungsgrundlagen entsprechend zu veranlagen. Die gemäß §364b AO 1977 gesetzte Frist hindere dies nicht, da sich diese Frist nur auf das Einspruchsverfahren beziehe, das mit Ergehen der Einspruchsentscheidung beendet sei. -- Die Kosten des Rechtsstreits wurden gemäß §137 FGO der Klägerin auferlegt.
Seine Revision hat das FA mit Verletzung von §364b AO 1977, §76 Abs. 3, §79b Abs. 3 FGO begründet.
Es hat beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen und -- unter Hinweis auf das Urteil des FG München vom 26. November 1997 9 K 3584/96 (Deutsches Steuerrecht -- Entscheidungsdienst 1998, 295) -- die Kosten des gesamten Rechtsstreits dem FA aufzuerlegen.
Nachdem beide Beteiligte auf die mündliche Verhandlung verzichtet haben, hat das FA seine Revision zurückgenommen. Die Klägerin hat erklärt, damit einverstanden zu sein, jedoch die Versicherung zu benötigen, daß die Kosten des Verfahrens in Abänderung des FG-Urteils dem FA auferlegt würden.
Entscheidungsgründe
II. 1. Über die Revision des FA muß sachlich entschieden werden, weil sie nicht wirksam zurückgenommen worden ist.
Da die Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichtet haben, bedurfte die Rücknahme der Revision der Einwilligung der Klägerin (§125 Abs. 1 Satz 2 FGO). Diese hat nicht wirksam eingewilligt, weil sie ihre Einwilligung im Ergebnis davon abhängig gemacht hat, daß das Urteil der Vorinstanz abgeändert und die darin enthaltene Kostenentscheidung revidiert wird. Damit ist die Einwilligung bedingt. Bedingte Prozeßhandlungen sind jedoch unwirksam (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §125 Rz. 3, 4, m.w.N.). Die Rücknahme der Revision durch das FA gilt deswegen als nicht geschehen. Das hat zur Folge, daß über den Revisionsantrag entschieden werden muß, obwohl das FA seinen Antrag nicht mehr aufrechterhält (Bundesfinanzhof -- BFH --, Urteil vom 29. April 1992 XI R 5/90, BFHE 168, 161, BStBl II 1992, 969).
2. Die Revision des FA ist unbegründet.
Nach §76 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der von der Finanzbehörde nach §364b AO 1977 gesetzten Frist im Einspruchsverfahren oder im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden; die Maßstäbe des §79b Abs. 3 FGO gelten hierbei sinngemäß (§76 Abs. 3 Satz 2 FGO). Dem FG ist sonach ein Verfahrensermessen eingeräumt, das pflichtgemäß wahrzunehmen ist. Bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen hat es die Möglichkeit, die verspätet vorgebrachten Erklärungen und Beweismittel zurückzuweisen, verpflichtet ist es dazu indessen nicht. Das Gericht wird durch die behördliche Entscheidung, das verspätete Vorbringen des Steuerpflichtigen gemäß §364b AO 1977 zurückzuweisen, nicht präjudiziert, sondern lediglich zu einer -- eigenständigen -- Ermessensentscheidung gemäß §76 Abs. 3 FGO veranlaßt. Hat es im Rahmen dieses Ermessens die vom Steuerpflichtigen nach Beendigung des Einspruchsverfahrens nachgereichten Steuererklärungen aber berücksichtigt, ist diese dem Steuerpflichtigen positive Verfahrensentscheidung des FG in der Revisionsinstanz grundsätzlich -- und damit auch im Streitfall zugunsten der Klägerin -- als verbindlich hinzunehmen. Im einzelnen wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf das Senatsurteil vom 17. Dezember 1997 I R 47/97 (BFHE 185, 21, BStBl II 1998, 269) Bezug genommen.
3. Da das FA in der Sache keine Einwendungen gegen das FG-Urteil geltend gemacht hat, war das Urteil des FG deshalb zu bestätigen. Dies gilt auch hinsichtlich der Kostenentscheidung des FG, da die Klägerin insoweit keine (zulässige, vgl. BFH-Urteil vom 2. Juni 1971 III R 105/70, BFHE 102, 563, BStBl II 1971, 675) Anschlußrevision erhoben hat.
Fundstellen