Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines Verspätungszuschlags
Leitsatz (NV)
1. Die Festsetzung von Verspätungszuschlägen ist nicht deswegen zwingend zurückzunehmen, weil Gesamtrechtsnachfolge eingetreten ist und der Abgabepflichtige, dessen Verhalten die Festsetzung veranlasst hat, nicht weiterhin als Schuldner in Anspruch genommen werden kann.
2. Die Ablehnung der Rücknahme eines (rechtswidrigen) unanfechtbaren Verwaltungsakts ist grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Betroffene die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Rechtsbehelf gegen den Verwaltungsakt hätte vorbringen können.
Normenkette
AO § 130 Abs. 1, 4, §§ 152, 45 Abs. 1, § 122 Abs. 1 S. 1, § 124 Abs. 1 S. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), die X GmbH (GmbH), ist seit dem 1. Januar 1995 Gesamtrechtsnachfolgerin der X KG (KG).
Da die KG die Umsatzsteuervoranmeldungen für Mai bis August 1994 und die Lohnsteueranmeldungen für Juni bis September 1994 verspätet abgegeben hatte, setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) in der Zeit zwischen dem 22. September 1994 und dem 28. November 1994 gegenüber der KG Verspätungszuschläge wie folgt fest:
Umsatzsteuer Mai 1994 |
10.000 DM |
Umsatzsteuer Juni 1994 |
10.000 DM |
Umsatzsteuer Juli 1994 |
10.000 DM |
Umsatzsteuer August 1994 |
10.000 DM |
Lohnsteuer Juni 1994 |
4.460 DM |
Lohnsteuer Juli 1994 |
4.560 DM |
Lohnsteuer August 1994 |
7.220 DM |
Lohnsteuer September 1994 |
7.410 DM |
Die KG legte mit Schreiben vom 26. Oktober 1994 nur gegen die Festsetzungen der Zuschläge wegen verspäteter Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen für Juni und Juli 1994 Beschwerden ein. Das FA setzte den Verspätungszuschlag für Juni 1994 in Anpassung an die eingereichte Voranmeldung durch Bescheid vom 3. November 1994 auf 8.980 DM herab. Die Beschwerde gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags für Juli 1994 wies die Oberfinanzdirektion mit Beschwerdeentscheidung vom 28. September 1995 als unbegründet zurück.
Mit Schreiben vom 8. Dezember 1995 beantragte die Klägerin, die Festsetzungen der Verspätungszuschläge gemäß § 131 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) zu widerrufen, weil deren Eintreibung existenzbedrohende Zahlungsschwierigkeiten zur Folge hätte. Dies lehnte das FA mit Bescheid vom 6. März 1996 ab. Im Einspruchsverfahren verwies die Klägerin ohne Erfolg auf die seinerzeitige Konkursreife der KG, weswegen sämtliche Personalkräfte in die Rettung und Sanierung des Unternehmens eingebunden gewesen seien. Das FA hielt die Festsetzungen dem Grunde und der Höhe nach für ermessensgerecht und damit für rechtmäßig (Einspruchsentscheidung vom 28. Mai 1997).
Mit Urteil vom 29. Januar 1998 10 K 4851/97 hob das Finanzgericht (FG) den Ablehnungsbescheid vom 6. März 1996 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 28. Mai 1997 auf und verpflichtete das FA, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Das FA habe die nach § 130 Abs. 1 i.V.m. § 5 AO in seinem Ermessen stehende Ablehnung der Rücknahme der Verspätungszuschläge zu Unrecht als ermessensfehlerfrei angesehen. Tatsächlich habe es das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der Verspätungszuschläge nicht ausgeübt. Das Urteil wurde rechtskräftig.
Mit Bescheid vom 6. März 1998 lehnte das FA die Rücknahme der Verspätungszuschläge wiederum ab. Es führte unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26. März 1991 VII R 15/89 (BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552) u.a. aus, die KG sei in der Lage gewesen, die Bestandskraft der Festsetzungen durch Rechtsbehelfe abzuwenden, wie ihre Beschwerden gegen die Festsetzungen von Verspätungszuschlägen zu den Umsatzsteuervoranmeldungen für Juni und Juli 1994 zeigten. Eine Abwägung zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtsfrieden ergebe, dass dem durch die Bestandskraft gesicherten Rechtsfrieden hier erhebliche Bedeutung zukomme, zumal zwischen dem Eintritt der Bestandskraft der von der KG nicht angefochtenen Festsetzungen von Verspätungszuschlägen und dem Antrag auf Rücknahme ein Zeitraum von mehr als einem Jahr liege. Die Höhe der Verspätungszuschläge entspreche den üblichen rechnergesteuerten Schätzungsvorschlägen, die sich an der Höhe der angemeldeten Steuer, der Dauer der Verspätung und der Anzahl der bisherigen Verspätungen orientierten.
Das FG hob mit Urteil vom 29. April 1999 10 K 4575/98 (auch) den Ablehnungsbescheid vom 6. März 1998 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 1998 auf. Das FA habe bei seiner Ermessensentscheidung den Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt, weil es die das Ermessen regelnde Bestimmung in Nr. 2 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung zu § 130 AO nicht angewandt habe. Danach dürfe die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts nicht allein deswegen abgelehnt werden, weil der Betroffene ein Rechtsmittel hätte einlegen können. Der Erlassgeber sei insoweit nicht der engeren Auffassung im BFH-Urteil in BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552 gefolgt. Darüber hinaus fehlten Ausführungen zur Rechtmäßigkeit der Höhe der Verspätungszuschläge. Dieses Urteil wurde ebenfalls rechtskräftig.
Das FA lehnte mit Bescheid vom 21. Oktober 1999 nochmals eine Rücknahme der bestandskräftig festgesetzten Verspätungszuschläge ab. Die Festsetzungen der Verspätungszuschläge seien dem Grunde und der Höhe nach gerechtfertigt gewesen. Sämtliche Voranmeldungen seien innerhalb der jeweiligen Abgabefrist fertiggestellt, aber dann jeweils verspätet abgegeben worden. Dies zeige deutlich, dass die Anmeldungen bewusst zurückgehalten worden seien, vermutlich, um sich bei der Rettung und Sanierung der KG zusätzliche Liquidität zu verschaffen. Im Hinblick auf die wiederholt verzögerte Abgabe, das offenkundig bewusste Zurückhalten der Voranmeldungen und unter Berücksichtigung der maßgeblichen Kriterien des § 152 Abs. 2 AO seien die Verspätungszuschläge der Höhe nach angemessen. Eine Benachteiligung des FA müsse nicht hingenommen werden. Im Übrigen werde auf die bisher zu dem Verfahren ergangenen Einspruchsentscheidungen und Ablehnungsschreiben hingewiesen.
Mit dem vorliegend angefochtenen Urteil vom 21. April 2005 hob das FG auch diesen Bescheid vom 21. Oktober 1999 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000 auf. Gleichzeitig wurde das FA verpflichtet, die Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuervoranmeldungen für Mai, Juli und August 1994 auf jeweils 3.650 DM, für Juni 1994 auf 3.278 DM, und zu den Lohnsteueranmeldungen für Juni 1994 auf 1.628 DM, für Juli 1994 auf 1.664 DM, für August 1994 auf 2.818 DM und für September 1994 auf 2.705 DM herabzusetzen. Zur Begründung führte das FG im Wesentlichen aus, dem FA sei insoweit ein entscheidungserheblicher Ermessensfehler unterlaufen, als es nicht berücksichtigt habe, dass die KG, die für die Verspätungen verantwortlich gewesen sei, seit 1. Januar 1995 erloschen sei. Damit könne auf sie nicht mehr der mit den Verspätungszuschlägen bezweckte Druck zur fristgerechten Erklärungsabgabe ausgeübt werden. Das Abgabeverhalten der Klägerin (GmbH) sei unstreitig nicht zu beanstanden. Im Streitfall liege eine "Ermessensreduzierung ähnlich der Ermessensreduzierung auf Null" vor, die nur noch die Entscheidung richtig erscheinen lasse, die Verspätungszuschläge auf die Höhe des doppelten Zinsvorteils herabzusetzen. Da das FA trotz zweimaliger rechtskräftiger Verpflichtung zur Neubescheidung sowie vergeblicher Vergleichsbemühungen des Gerichts ersichtlich nicht bereit sei, die Verspätungszuschläge herabzusetzen, sei nunmehr eine entsprechende Verpflichtung auszusprechen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 582 veröffentlicht.
Mit seiner Revision rügt das FA Verletzung der §§ 102, 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FG habe die Höhe der Verspätungszuschläge aufgrund eigener Erwägungen bestimmt, ohne darzulegen, dass dies die einzig mögliche ermessensfehlerfreie Festsetzung sei. Es habe damit sein eigenes Ermessen an die Stelle des vom FA auszuübenden Ermessens gesetzt. Dies sei ein schwerwiegender Rechtsfehler. Die Tatsache, dass die Klägerin ab 1. Januar 1995 Gesamtrechtsnachfolgerin der KG sei, habe nichts an der Pflicht der KG geändert, bis Ende 1994 Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen fristgerecht abzugeben. Im Zeitpunkt der Festsetzung der Verspätungszuschläge hätten diese ihren Zweck durchaus erfüllen können. Aus dem späteren Erlöschen der KG folge nicht die Rechtswidrigkeit der bereits festgesetzten Verspätungszuschläge. Das Urteil des FG sei zudem widersprüchlich. Wenn es richtig wäre, dass aufgrund der Gesamtrechtsnachfolge ein Druckmittel nicht mehr angebracht sei, hätte das FG die Festsetzung der Verspätungszuschläge gänzlich aufheben und nicht nur der Höhe nach korrigieren müssen. Im Übrigen sei die Ablehnung der Rücknahme der angefochtenen Bescheide ermessensgerecht, wie aus den wiederholten Ablehnungsverfügungen und Einspruchsentscheidungen zu entnehmen sei.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hatte zunächst mit Schriftsatz vom 14. Juni 2007 beantragt, dem Antrag auf Rücknahme der Verspätungszuschläge wegen verspäteter Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen für Mai bis August 1994 und der Lohnsteueranmeldungen für Juni bis September 1994 stattzugeben und das FA zu verpflichten, die Verspätungszuschläge ersatzlos zurückzunehmen. Mit Schriftsatz vom 10. September 2009 hat die Klägerin (nur noch) beantragt, die Revision des FA zurückzuweisen.
Zur Begründung weist sie u.a. auf das ihrer Ansicht nach außergewöhnliche Verfahren und Verhalten des FA hin, das dem angefochtenen Urteil vorausgegangen sei, sowie darauf, dass die KG durch Verschmelzung erloschen sei. Die KG habe die Verspätung zu vertreten, könne aber wegen ihres Erlöschens nicht mehr durch Festsetzung von Verspätungszuschlägen zu einer rechtzeitigen Abgabe von Steuererklärungen angehalten werden.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).
Das FG durfte den Ablehnungsbescheid vom 21. Oktober 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000 nicht wegen der nach Festsetzung der Verspätungszuschläge eingetretenen Gesamtrechtsnachfolge aufheben und das FA nicht dazu verpflichten, die Verspätungszuschläge auf bestimmte Beträge herabzusetzen. Die angefochtenen Bescheide sind vielmehr angesichts der nur eingeschränkt möglichen gerichtlichen Prüfung (§ 102 Satz 1 FGO) rechtmäßig.
1. Nach § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Verwaltungsakt in diesem Sinne ist auch die Festsetzung eines Verspätungszuschlags.
Die Rücknahme steht im Ermessen der nach § 130 Abs. 4 AO zuständigen Behörde. Wenn eine Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Eine behördliche Ermessensentscheidung unterliegt gemäß § 102 FGO nur insoweit der gerichtlichen Nachprüfung, als es um die Frage geht, ob die Behörde nach den tatsächlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BFH-Beschluss vom 4. Juni 2008 I R 9/07, BFH/NV 2008, 1647). Bei der Ermessensprüfung darf das Gericht vor allem die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Erwägungen nicht durch eigene ersetzen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 14. Juni 2000 X R 56/98, BFHE 192, 213, BStBl II 2001, 60, unter II.2.b, m.w.N.; vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, unter II.3., m.w.N.). Es darf ferner wegen der bei Ermessensentscheidungen nach § 102 Satz 1 FGO eingeschränkten Prüfungs- und Entscheidungskompetenz das FA nur dann nach § 101 Satz 1 FGO zum Erlass einer bestimmten Entscheidung verpflichten, wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null; vgl. dazu z.B. BFH-Urteile vom 25. November 1997 IX R 28/96, BFHE 185, 94, BStBl II 1998, 550, unter II.3.a, m.w.N.; vom 29. März 2007 IX R 9/05, BFH/NV 2007, 1617, unter II.1.b aa).
2. Die Festsetzung von Verspätungszuschlägen ist nicht deswegen zwingend zurückzunehmen, weil Gesamtrechtsnachfolge eingetreten ist und der Steuerpflichtige, dessen Verhalten die Festsetzung veranlasst hat, nicht weiterhin als Schuldner in Anspruch genommen werden kann.
Die Verpflichtung zur Zahlung eines Verspätungszuschlags geht nach § 45 Abs. 1 Satz 1 AO als "Schuld aus dem Steuerschuldverhältnis" auf den Gesamtrechtsnachfolger über. Verspätungszuschläge sind ebenso wenig wie Säumniszuschläge vom Übergang kraft Gesamtrechtsnachfolge ausgeschlossen (vgl. BFH-Urteil vom 22. Januar 1993 III R 92/89, BFH/NV 1993, 455, unter II.2.c). Eine Ausnahme sieht das Gesetz lediglich bei der Erbfolge für Zwangsgelder vor (§ 45 Abs. 1 Satz 2 AO). Es kann dahinstehen, ob diese Einschränkung für andere Fälle der Gesamtrechtsnachfolge entsprechend gilt. Denn ein Verspätungszuschlag ist kein Zwangsgeld i.S. der §§ 328, 329 AO. Er ist ein Druckmittel eigener Art, das den ordnungsgemäßen Gang des Besteuerungsverfahrens sicherstellen soll (vgl. BFH-Urteil vom 10. Oktober 2001 XI R 41/00, BFHE 196, 408, BStBl II 2002, 124).
Die Erhebung des gegen einen Rechtsvorgänger festgesetzten Verspätungszuschlags führt auch dann nicht zu einem sinnwidrigen Ergebnis, wenn der Rechtsnachfolger die bisher versäumten Erklärungspflichten nunmehr unverzüglich erfüllt (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 1993, 455, zur Gesamtrechtsnachfolge durch Erbfall). Denn insoweit kann nichts anderes gelten, als wenn ein Steuerpflichtiger nach Festsetzung des Zuschlags selbst seinen Erklärungspflichten nachkommt. Der Verspätungszuschlag hat nicht nur präventive, sondern auch repressive Funktion (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juni 2002 IV R 63/00, BFHE 198, 399, BStBl II 2002, 679; BFH-Beschluss vom 10. Februar 2005 VI B 108/04, BFH/NV 2005, 1003).
3. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist abzuweisen. Das FA hat es in gerichtlich nicht zu beanstandender Weise durch den Bescheid vom 21. Oktober 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000 abgelehnt, die Festsetzungen der Verspätungszuschläge zurückzunehmen. Ermessensfehler i.S. des § 102 Satz 1 FGO sind ihm dabei nicht unterlaufen.
a) Soweit die Festsetzungen der Verspätungszuschläge bestandskräftig geworden sind, konnte das FA die Ablehnung der Rücknahme ermessensfehlerfrei auf den Eintritt der Bestandskraft stützen.
aa) Die Ablehnung der Rücknahme eines (rechtswidrigen) unanfechtbaren Verwaltungsakts ist grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Betroffene die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Rechtsbehelf gegen den Verwaltungsakt hätte vorbringen können. Mit dieser Begründung kann das FA eine Rücknahme nur dann nicht ablehnen, wenn vom Adressaten des Verwaltungsakts die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls billigerweise nicht erwartet werden konnte (vgl. BFH-Urteil in BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552; BFH-Beschluss vom 12. April 2005 VII B 81/04, BFH/NV 2005, 1478, m.w.N.). Insoweit gelten dieselben Grundsätze wie für den vergleichbaren Fall des Erlasses bestandskräftig festgesetzter Steuern aus sachlichen Gründen nach § 227 AO (vgl. BFH-Urteile vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; vom 17. Juni 2004 IV R 9/02, BFH/NV 2004, 1505). Die in § 130 AO vorgesehene Möglichkeit, rechtswidrige Verwaltungsakte zurückzunehmen, dient grundsätzlich ebenso wenig wie der Erlass dazu, die Folgen eines nicht eingelegten oder nicht weiterverfolgten Rechtsbehelfs auszugleichen. Die Begründungsmängel, die nach Auffassung des FG zur Rechtswidrigkeit der Festsetzungen der Verspätungszuschläge geführt haben, hätten ggf. nach § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO im Rechtsbehelfsverfahren geheilt werden können (vgl. BFH-Urteil vom 26. September 2001 IV R 29/00, BFHE 196, 392, BStBl II 2002, 120).
bb) Im Streitfall sind die Festsetzungen der Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuervoranmeldungen für Mai und August 1994 sowie zu den Lohnsteueranmeldungen für Juni bis September 1994 mangels Beschwerde bestandskräftig geworden. Die Festsetzungen waren zutreffend an die damals noch existente Schuldnerin, die KG, gerichtet und damit wirksam (§ 122 Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 1 Satz 1 AO). Eine zusätzliche Bekanntgabe an die Klägerin als spätere Gesamtrechtsnachfolgerin war nicht veranlasst.
Durch die Bezugnahme auf die zur Rücknahme ergangenen Ablehnungsschreiben und Einspruchsentscheidungen war hinreichend deutlich, dass das FA u.a. an der im Bescheid vom 6. März 1998 vertretenen Rechtsauffassung festhalten wollte, nach der dem durch Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden eine größere Bedeutung zukomme als der materiellen Gerechtigkeit und die KG die angebliche Rechtswidrigkeit der Verspätungszuschläge mit der Beschwerde hätte beanstanden können. Diese Ermessensabwägung des FA ist nicht zu beanstanden. Denn die KG hätte sowohl die Argumente, mit denen die Klägerin ihren Antrag auf Rücknahme der gegenüber der KG festgesetzten Verspätungszuschläge begründet hat, nämlich eine existenzbedrohende Verlustsituation bei der KG und der zwingende Einsatz des Personals zum Zweck der Konkursabwendung und Sanierung, als auch die Einwendungen gegen eine ermessensgerechte Höhe der Verspätungszuschläge mit Rechtsbehelfen gegen die Festsetzungen der Verspätungszuschläge geltend machen können. Dies konnte von der KG auch erwartet werden. Denn sie hat in dem streitigen Zeitraum tatsächlich Rechtsbehelfe gegen die Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuervoranmeldungen für Juni und Juli 1994 eingelegt und war damit nachweislich zur Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte in der Lage.
b) Soweit das FA die Rücknahme der Festsetzungen der Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuervoranmeldungen für Juni und Juli 1994 abgelehnt hat, ist dies ebenfalls nicht ermessensfehlerhaft. Das gilt selbst dann, wenn die Festsetzungen (noch) nicht bestandskräftig geworden sein sollten. Das FA hat sein Ermessen hinsichtlich Grund und Höhe aller hier streitigen Verspätungszuschläge, also auch der Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuervoranmeldungen für Juni und Juli 1994 in dem Ablehnungsbescheid vom 21. Oktober 1999 sowie in der Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000 unter allen denkbaren Aspekten ausgeübt. Denn im Ablehnungsbescheid war ausdrücklich auf die Erwägungen in den vorausgegangenen Ablehnungsbescheiden und Einspruchsentscheidungen Bezug genommen worden.
Es kann dahinstehen, ob die Festsetzung eines Verspätungszuschlags rechtswidrig und nach § 130 AO (teilweise) zurückzunehmen ist, wenn das FA --wie vorgetragen-- rechnergesteuerte Schätzungsvorschläge unverändert übernimmt, die nur die Höhe der angemeldeten Steuer, die Dauer der Verspätung und die Anzahl der bisherigen Verspätungen, nicht aber die übrigen bei der Bemessung des Zuschlags nach § 152 Abs. 2 AO genannten Umstände, wie insbesondere das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Schuldners berücksichtigen. Jedenfalls hat das FA zuletzt in seiner Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000 nochmals die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der KG und die Tatsache gewürdigt, dass die handschriftlich ausgefüllten Voranmeldungen fristgerecht erstellt, aber nicht zeitnah beim FA eingereicht wurden. So trägt die Umsatzsteuervoranmeldung für Juni 1994 --ebenfalls handschriftlich vermerkt-- als Datum der Unterschrift den 10. August 1994. Sie ist jedoch erst am 28. September 1994 beim FA eingegangen. Die am 10. September 1994 unterschriebene Umsatzsteuervoranmeldung für Juli 1994 wurde erst am 1. Dezember 1994 beim FA eingereicht. Die vom FA daraus gezogenen Schlüsse sind keineswegs sachfremd.
Das FA muss zwar bei der Entscheidung über die Höhe des Verspätungszuschlags sämtliche in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO erwähnten Beurteilungsmerkmale beachten und das Für und Wider gegeneinander abwägen. Dabei kann aber ein Merkmal nach den Umständen des Einzelfalls ausnahmsweise letztlich auch ganz ohne Auswirkung auf die Bemessung des Verspätungszuschlags bleiben (vgl. BFH-Beschluss vom 23. Juni 2008 IV B 106/07, BFH/NV 2008, 1642, m.w.N.). Es ist nicht erforderlich, dass das FA den einzelnen Ermessenskriterien einen bestimmten Teilbetrag des Verspätungszuschlags zuordnet.
c) Soweit das FG im Streitfall eine "Ermessensreduzierung ähnlich der Ermessensreduzierung auf Null" angenommen hat, weil das FA trotz zweimaliger rechtskräftiger Verpflichtung zur Neubescheidung und vergeblicher Vergleichsbemühungen des Gerichts ersichtlich nicht bereit sei, die Verspätungszuschläge herabzusetzen, gibt es dafür in der FGO keine Grundlage.
Fundstellen
Haufe-Index 2258025 |
BFH/NV 2010, 12 |