Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Sind im Einkommensteuerbescheid Einkünfte des Steuerpflichtigen nicht als solche aus Gewerbebetrieb, sondern aus anderen Einkunftsarten, z. B. aus selbständiger Arbeit, behandelt, so ist in dem Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der Gewerbesteuer weder ein Freistellungsbescheid noch eine rechtsverbindliche Zusage der Gewerbesteuerfreiheit zu erblicken. Die nachträgliche Heranziehung des Steuerpflichtigen zur Gewerbesteuer ist daher ohne die Einschränkungen des § 222 Abs. 1 AO zulässig. Es ist darin auch grundsätzlich kein Verstoß gegen Treu und Glauben zu erblicken.
Die Vorschrift des § 222 Abs. 2 AO kann auf die Fälle des § 223 AO nicht ausgedehnt werden.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1-2, § 223
Tatbestand
Die Bfin. betreibt eine private Handelsschule, die von der Schulaufsichtsbehörde als den öffentlichen Schulen gleichwertig anerkannt ist. Bei der ursprünglichen Einkommensteuerveranlagung für 1953 sind die Einkünfte aus der Schule als solche aus selbständiger Arbeit behandelt worden. Auf Grund des Ergebnisses einer im Frühjahr 1957 durchgeführten Betriebsprüfung hat das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid für 1953 berichtigt und die aus dem Betrieb der Handelsschule erzielten Einkünfte den gewerblichen Einkünften zugerechnet. Gleichzeitig hat es hinsichtlich des aus dem Schulbetrieb erzielten Gewinnes einen Gewerbesteuermeßbescheid erlassen. Das Finanzamt hat sich hierbei auf das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 492/53 U vom 7. Juli 1955 (BStBl 1955 III S. 323, Slg. Bd. 61 S. 324) bezogen.
Mit der nach erfolglosem Einspruch eingelegten Berufung hat sich die Bfin. zwar grundsätzlich nicht gegen die Gewerbesteuerpflicht von privaten Handelsschulen gewendet, bei denen die unterrichtende Tätigkeit nicht ausschließlich oder ganz überwiegend vom Steuerpflichtigen selbst ausgeübt wird. Sie hat jedoch die Auffassung vertreten, daß dann, wenn bei der Einkommensteuerveranlagung die Einkünfte als solche aus selbständiger Tätigkeit besteuert worden seien, eine Heranziehung zur Gewerbesteuer nicht mehr möglich sei; denn nach § 2 Abs. 1 GewStG sei unter Gewerbebetrieb ein gewerbliches Unternehmen im Sinne des EStG zu verstehen. Die gewerbesteuerliche Beurteilung sei daher an die Behandlung der Einkünfte nach dem EStG gebunden. Da die Einkommensteuerveranlagung mit der Heranziehung der Einkünfte aus dem Betrieb der Handelsschule als solcher aus selbständiger Tätigkeit rechtskräftig abgeschlossen gewesen sei, habe sie sich auf den in der Rechtskraft liegenden Rechtsschutz verlassen können. Es würde eine Durchbrechung des Rechtsschutzes einseitig zugunsten des Fiskus bedeuten, wenn die Gewerbesteuer bis zur Verjährung nachgefordert werden könnte, weil in einer oberstrichterlichen Entscheidung die Gewerbesteuerpflicht für einen bestimmten Beruf nachträglich bejaht worden sei.
Die Berufung blieb ohne Erfolg. Die Behandlung der Einkünfte aus der Schule bei der Einkommensteuerveranlagung für 1953 enthalte, so hat das Finanzgericht ausgeführt, keine rechtliche Bindung für die Gewerbesteuer. Nach § 7 GewStG sei der Gewinn, der der Ermittlung des Gewerbeertrags zugrunde gelegt werde, zwar nach den Vorschriften des EStG zu ermitteln. Die Fassung der Bestimmung lasse aber erkennen, daß diese Ermittlung im Gewerbesteuerverfahren selbständig zu geschehen habe (Urteile des Bundesfinanzhofs I 139/54 S vom 22. November 1955, BStBl 1956 III S. 4, Slg. Bd. 62 S. 9, und I 194/56 U vom 11. Dezember 1956, BStBl 1957 III S. 105, Slg. Bd. 64 S. 275). Seien nach den Vorschriften des EStG Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit gegeben, so habe eine Veranlagung dieser Einkünfte zur Gewerbesteuer zu unterbleiben. Lägen aber nach einkommensteuerrechtlicher Beurteilung Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit vor, so sei es rechtlich zulässig, diese Einkünfte auch dann zur Gewerbesteuer heranzuziehen, wenn sie bei der Einkommensteuerveranlagung unrichtigerweise als Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit angesehen worden seien. Im übrigen habe das Finanzamt bei der berichtigten Einkommensteuerveranlagung 1953 die aus dem Schulbetrieb erzielten Einkünfte als solche aus Gewerbebetrieb behandelt.
In der Berichtigung des Einkommensteuerbescheides nach § 222 AO liege keine Durchbrechung des Rechtsschutzes. Seien die Voraussetzungen des § 222 AO gegeben, so sei das Finanzamt zur Durchführung einer Berichtigungsveranlagung berechtigt und verpflichtet. Werde dabei festgestellt, daß nicht Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit, sondern gewerbliche Einkünfte vorlägen, so sei das Finanzamt auch verpflichtet, für die Einkünfte einen Gewerbesteuermeßbetrag festzusetzen. Ein Fall des § 222 Abs. 2 AO sei hier nicht gegeben, da es sich bei der vorliegenden Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags nicht um eine Berichtigungsveranlagung, sondern um die erstmalige Veranlagung handle und die Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags auch nicht auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs gegründet werde, in der eine Rechtsfrage im Gegensatz zu einer früheren, einen gleichen Sachverhalt betreffenden höchstrichterlichen Entscheidung entschieden werde. Das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 492/53 U vom 7. Juli 1955 (a. a. O.) halte sich im Rahmen der ständigen Rechtsprechung zum Begriff der freien Berufstätigkeit nach § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG.
Mit der Rb. weist die Bfin. wiederum darauf hin, daß der Begriff des Gewerbebetriebs für die Einkommensteuer und die Gewerbesteuer der gleiche sei. Eine getrennte Beurteilung sei daher nicht möglich. Im Zeitpunkt der ursprünglichen Veranlagung für 1953 habe das Finanzamt die Einkünfte der Bfin. ohne Rechtsirrtum als solche aus selbständiger Arbeit ansehen können. Das Finanzgericht habe nicht geprüft, ob die geringfügigen Feststellungen des Betriebsprüfers eine Berichtigung der Veranlagung für Zwecke der Gewerbesteuer überhaupt zugelassen hätten. Aber auch für eine erstmalige Veranlagung fehlten die rechtlichen Grundlagen, weil ein Urteil des Bundesfinanzhofs allein hierfür keine Handhabe biete.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Rb. ergibt folgendes:
Wie die Akten ersehen lassen, hat das Finanzamt bei der ursprünglichen Einkommensteuerveranlagung für 1953 die Einkünfte der Bfin. aus der Schule im Hinblick auf das Urteil des Reichsfinanzhofs VI 742/38 vom 21. Dezember 1938 (RStBl 1939 S. 263) nicht als Einkünfte aus Gewerbebetrieb, sondern als solche aus selbständiger Arbeit angesehen und aus diesem Grunde auch keinen Gewerbesteuermeßbescheid an die Bfin. erlassen. In dem genannten Urteil ist ausgesprochen, daß eine private Unterrichtsanstalt, die als Ersatzschule von der Schulaufsichtsbehörde anerkannt ist, kein Gewerbebetrieb ist. Die Entscheidung des Reichsfinanzhofs stützt sich auf Abschnitt I Ziff. 3 Abs. 4 GewStR 1937 (RStBl 1937 S. 515). Danach ist bei Privatschulen, die von den Schulaufsichtsbehörden als Ersatzschulen genehmigt oder anerkannt sind, anzunehmen, daß sie in der Regel nicht mit der Absicht der Gewinnerzielung arbeiten. Dies könne, so wird in dem Urteil des Reichsfinanzhofs ausgeführt, nur bedeuten, daß hier die Absicht der Gewinnerzielung nicht das Hauptmotiv der Tätigkeit bilde. Wenn die Schule als Ersatzschule anerkannt werde, so werde damit auch anerkannt, daß sie in erster Linie erzieherische und unterrichtliche Zwecke verfolge. In dem genannten Urteil des Senats IV 492/53 U vom 7. Juli 1955 wird diese Auffassung des Reichsfinanzhofs ausdrücklich abgelehnt und ausgesprochen, daß die Bestimmung der GewStR nur die Bedeutung eines Hinweises habe und dem Steuerpflichtigen keinen Rechtsanspruch auf Freistellung von der Gewerbesteuer gebe. Im übrigen verneint das Urteil die Annahme einer freien Berufstätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG für die Fälle, in denen, wie hier, die unterrichtende Tätigkeit nicht ausschließlich oder ganz überwiegend durch den Steuerpflichtigen persönlich ausgeübt wird. In diesem letzteren Punkt hält sich allerdings das Urteil des Bundesfinanzhofs im Rahmen der ständigen Rechtsprechung zum Begriff der freien Berufstätigkeit nach § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG (vgl. z. B. für Privatschulen das Urteil des Reichsfinanzhofs VI 147/38 vom 9. März 1938, RStBl 1938 S. 430). Hinsichtlich der Frage der Gewinnerzielungsabsicht weicht es jedoch von der früheren Rechtsprechung ab, wie sie bis dahin durch das genannte Urteil des Reichsfinanzhofs VI 742/38 vom 21. Dezember 1938 festgelegt war.
Hiernach ist im vorliegenden Fall entgegen der Annahme des Finanzgerichts die Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages für 1953 auf eine nach Entstehung des Steueranspruches erlassene höchstrichterliche Entscheidung gegründet worden, in der eine Rechtsfrage im Gegensatz zu einer früheren, einen gleichen Sachverhalt betreffenden höchstrichterlichen Entscheidung entschieden worden ist. Das Finanzgericht hat jedoch mit Recht einen Fall des § 222 Abs. 2 AO aus dem von ihm angeführten weiteren Grund nicht für gegeben erachtet, daß es sich bei der streitigen Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages nicht um eine Berichtigungsveranlagung, sondern um die erstmalige Veranlagung handelt. Für diese gilt der Grundsatz des § 223 AO, wonach Nachforderungen von Steuern bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zulässig sind. Im Rahmen dieser Vorschrift ist daher auch eine änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung beachtlich. Der Senat hält es in übereinstimmung mit Berger ("Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis", Anmerkung 2 zu § 223, S. 101) nicht für zulässig, die einschränkende Bestimmung in § 222 Abs. 2 AO auf § 223 AO auszudehnen. Soweit aus dem zur Grundsteuer ergangenen Urteil des Reichsfinanzhofs III 115/41 vom 3. September 1941 (RStBl 1941 S. 770) auf eine gegenteilige Auffassung zu schließen ist, wird ihr nicht beigetreten. Abs. 2 des § 222 AO bildet, wie sich aus seiner Stellung im Gesetz und aus dem Gebrauch der Worte "Berichtigungsveranlagung" und "Berichtigungsfeststellung" ergibt, eine Ergänzung zu Abs. 1 dieser Vorschrift. Er hat nur Bedeutung im Zusammenhang mit einer bereits früher erfolgten Veranlagung und setzt voraus, daß im Zeitpunkt dieser Veranlagung bereits zu einem gleichen Sachverhalt oder zu derselben Rechtsfrage eine bestimmte Stellungnahme des höchsten Steuergerichts vorgelegen hat (vgl. Berger, a. a. O., Anmerkung zu § 222 Abs. 2, S. 99, und Urteil des Reichsfinanzhofs IV 205/37 vom 10. Februar 1938, RStBl 1938 S. 282). Der Zweck der Vorschrift ist, zu verhindern, daß die änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung Anlaß zu Berichtigungen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 und 4 AO gibt und daß neue Tatsachen, die erst unter dem Gesichtspunkt der veränderten Rechtsauffassung rechtserhebliche Bedeutung erlangen, Berichtigungen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AO auslösen (vgl. Berger, a. a. O., S. 99, und Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 6. Auflage, Anmerkung 9 zu § 222).
Der Fall einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 AO wäre hier nur dann gegeben, wenn der Bfin. vor der streitigen Gewerbesteuermeßbetragsfestsetzung ein Gewerbesteuerfreistellungsbescheid (ein auf 0 DM lautender Steuermeßbescheid) zugegangen wäre. Freistellungsbescheide stehen nunmehr nach der neueren Rechtsprechung trotz des entgegenstehenden Wortlautes des § 210 Abs. 3 AO Steuerbescheiden, die auf einen positiven Steuerbetrag lauten, gleich (vgl. die Urteile des Bundesfinanzhofs IV 173/52 U vom 30. Oktober 1952 und II 113/53 U vom 10. Juni 1953, BStBl 1953 III S. 30 bzw. S. 214, Slg. Bd. 57 S. 75 bzw. S. 558). Entsprechendes gilt nach § 212 a Abs. 2 AO für Steuermeßbescheide. Ein Gewerbesteuerfreistellungsbescheid kann jedoch nicht in dem ursprünglichen Einkommensteuerbescheid für 1953 erblickt werden, in dem die Einkünfte der Bfin. aus dem Schulbetrieb als solche aus selbständiger Arbeit behandelt worden sind. Wenn auch nach § 2 Abs. 1 GewStG der Begriff des Gewerbebetriebes für die Einkommensteuer und die Gewerbesteuer der gleiche ist, so handelt es sich doch bei der Veranlagung zur Einkommensteuer und bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrages um zwei getrennte, selbständige Verfahren. Das Finanzamt ist, wie das Finanzgericht zutreffend dargelegt hat, in seiner Beurteilung in dem einen Verfahren nicht an diejenige im anderen Verfahren gebunden. Auch durch § 35 b GewStG (änderung des Gewerbesteuermeßbescheides infolge änderung des Einkommensteuerbescheides) ist keine solche Bindung geschaffen worden; die Vorschrift dient lediglich der Vereinfachung. Die Rechtswirkung des § 222 AO hätte daher im vorliegenden Fall für die Gewerbesteuer nur durch einen gesonderten Gewerbesteuerfreistellungsbescheid (auf 0 DM lautenden Steuermeßbescheid) herbeigeführt werden können. Ob hinsichtlich der Einkommensteuer die Voraussetzungen für eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 AO gegeben waren, braucht, weil zwischen den beiden Verfahren, wie ausgeführt, keine Bindung besteht, hier nicht geprüft zu werden.
Die Sachbehandlung bei der ursprünglichen Einkommensteuerveranlagung für 1953 kann hiernach auch nicht als eine für das Finanzamt rechtsverbindliche Zusage oder Auskunft im Sinne einer Nichtheranziehung der Bfin. zur Gewerbesteuer 1953 angesehen werden. Die Bfin. kann sich daher auch nicht gegenüber der nachträglichen Festsetzung eines Gewerbesteuermeßbetrages für diesen Erhebungszeitraum auf die Grundsätze von Treu und Glauben berufen (vgl. das Urteil des Bundesfinanzhofs II 12/57 U vom 6. März 1957, BStBl 1957 III S. 173, Slg. Bd. 64 S. 464). Schließlich kann auch, wie der Senat in dem Urteil IV 220/59 U vom 9. Dezember 1960 (BStBl 1961 III S. 108) ausgesprochen hat, die Nichtgeltendmachung von Steuernachforderungen während eines längeren Zeitraums für sich allein nicht zur Verwirkung des Steueranspruches führen.
Nach alledem war das Finanzamt zur nachträglichen Heranziehung der Bfin. zur Gewerbesteuer 1953 befugt und, da die Nachforderung von Steuern nicht in das Ermessen des Finanzamts gestellt ist, hierzu sogar verpflichtet (vgl. das angeführte Urteil des Bundesfinanzhofs II 12/57 U vom 6. März 1957). Die Rb. war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 410075 |
BStBl III 1961, 281 |
BFHE 1962, 34 |
BFHE 73, 34 |