Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung eines zu 100 v.H. schwerbehinderten, auf einen Rollstuhl angewiesenen und ständiger Begleitung bedürftigen Kindes
Leitsatz (NV)
- Das Tatbestandsmerkmal des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, wegen einer Behinderung außerstande zu sein, sich selbst zu unterhalten, ist eigenständig und nicht nach den Grundsätzen auszulegen, die das Bundessozialgericht zum Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz und zur Erwerbsunfähigkeit i.S. des § 44 SGB VI a.F. (§ 43 SGB VI n.F.) entwickelt hat.
- Bei einem zu 100 v.H. schwerbehinderten Kind, das auf einen Rollstuhl angewiesen ist, ständiger Begleitung bedarf und das eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten unter Anrechnung auf drei Schwerbehindertenplätze absolviert und danach keine Anstellung gefunden hat, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass ursächlich für sein Außerstandesein zum Selbstunterhalt die Behinderung und nicht die Lage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist.
- Die Bindungswirkung eines bestandskräftigen, die Gewährung von Kindergeld ablehnenden Bescheides erstreckt und beschränkt sich auf die Zeit bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3; SGB VI §§ 44, 43; SchwbG § 10 Abs. 2; SGB IX § 76 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der 1978 geborene Sohn des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) ist aufgrund einer Muskelerkrankung behindert. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen und bedarf ständiger Begleitung. Im Schwerbehindertenausweis des Sohnes sind neben dem Grad der Behinderung von 100 v.H. u.a. die Merkmale G, aG und H eingetragen.
Der Sohn beendete seine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten bei der … Universität B im Juli 1999. Seit September 1999 besuchte er die Fachoberschule für Verwaltung und Rechtspflege und erlangte im Juli 2000 die Fachhochschulreife (Durchschnittsnote 2,5). Seitdem ist er arbeitslos gemeldet und erhält Arbeitslosenhilfe. Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) hob mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 9. August 2000 die Kindergeldfestsetzung ab August 2000 auf.
Am 16. Mai 2001 beantragte der Kläger erneut Kindergeld für seinen Sohn. Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Sohn der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehe und daher die Behinderung nicht i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ursächlich dafür sei, dass dieser sich nicht selbst unterhalten könne.
Nach erfolglosem Einspruch trug der Kläger zur Begründung seiner Klage vor, dass die Ausbildung seines Sohnes bei der Universität gemäß § 10 Abs. 2 des Schwerbehindertengesetzes ―SchwbG― (seit 1. Juli 2001: § 76 Abs. 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ―SGB IX―) wegen der Art und Schwere seiner Behinderung mit Zustimmung des Arbeitsamtes auf drei Schwerbehindertenplätze angerechnet worden sei. Sein Sohn habe nach Abschluss der Ausbildung keine Arbeit gefunden, da es keinen Arbeitsplatz gebe, an dem er ohne Umbauten arbeiten könne. Die Praxis zeige, dass Personalchefs freiwillig keinen Schwerbehinderten im Elektrorollstuhl einstellen würden, für den sie den Arbeitsplatz noch umgestalten müssten. Teilweise scheitere die Suche nach einem Arbeitsplatz schon daran, dass die Gebäude keinen Fahrstuhl hätten, nicht ebenerdig, die Türen zu schmal und die Zimmer so vollgestellt seien, dass sein Sohn in diese Räume gar nicht hineinfahren könne. Der Beklagte verwies dagegen darauf, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ein behindertes Kind regelmäßig nur dann wegen seiner Behinderung nicht in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, wenn es erwerbsunfähig i.S. von § 44 SGB VI sei. Diese Voraussetzung sei im Streitfall nicht gegeben, da der Sohn der Arbeitsvermittlung vollschichtig zur Verfügung stehe.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage auf Festsetzung von Kindergeld ab August 2000 statt. Es entschied unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97 (BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72), dass für die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht auf die Rechtsprechung des BSG zurückgegriffen werden könne. Im Streitfall sei nach Auffassung des Gerichts die Behinderung ursächlich für die Unfähigkeit des Sohnes zum Selbstunterhalt. Er weise den schwersten Grad der Behinderung auf, den das Gesetz vorsehe, und zudem noch die Merkmale aG (außergewöhnlich gehbehindert), H (hilflos) und B (ständige Begleitung notwendig). Er sei ständig auf den Rollstuhl angewiesen. Bei realistischer Einschätzung sei nicht davon auszugehen, dass der Sohn in absehbarer Zeit einen Arbeitsplatz als Verwaltungsangestellter finden werde. Dass der Sohn auch bei der Arbeit ständiger Begleitung bedürfe, wirke sich bei der Arbeitsplatzsuche erschwerend aus.
Der Beklagte rügt mit seiner Revision einen Verstoß gegen § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Er macht geltend, das FG habe zu Unrecht eine Kausalverknüpfung zwischen der Behinderung des Sohnes und dessen Unfähigkeit zum Selbstunterhalt bejaht. Im öffentlichen Dienst würden Behinderte bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt und seit vielen Jahren neue Dienstgebäude behindertengerecht gebaut, so dass sie auch einem Rollstuhlfahrer zugänglich seien. Es sei unwahrscheinlich, dass es am Wohnort des Sohnes bzw. in der näheren Umgebung keine Behörde mit geeigneten Räumlichkeiten gebe. Allein die Tatsache, dass es für den Sohn schwieriger als für Nichtbehinderte sein dürfte, einen Arbeitsplatz zu finden, führe nicht dazu, dass er generell außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Der Grund für die erfolglosen Bewerbungen des Sohnes liege vielmehr in der restriktiven Einstellungspraxis des öffentlichen Dienstes und damit in der schlechten Situation auf dem Arbeitsmarkt. Auf jeden Fall hätte das FG aufgrund des bestandskräftigen Aufhebungsbescheides vom 9. August 2000 Kindergeld frühestens ab September 2000 bewilligen können.
Der Beklagte beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nur zu einem geringen Teil begründet. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, soweit das FG den Beklagten zur Festsetzung von Kindergeld für den Monat August 2000 verpflichtet hat; insoweit wird die Klage abgewiesen. Im Übrigen ist die Revision unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
1. Der arbeitslos gemeldete Sohn des Klägers hatte das 21. Lebensjahr vollendet, so dass als Grundlage für den Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld nicht § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG, sondern nur § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG in Betracht kommt. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist Voraussetzung für die Berücksichtigung des Sohnes, dass er wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Einkünfte und Bezüge des Sohnes im Jahr 2000 so niedrig waren, dass er außerstande war, sich selbst zu unterhalten. Streitig ist allein, ob die Behinderung für diese Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ursächlich ist. Diese Frage hat das FG zutreffend bejaht.
2. Der Senat hat mit Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99 (Abdruck liegt bei) entschieden, dass § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG eigenständig und nicht nach den Grundsätzen auszulegen ist, die das BSG zum Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz und zur Erwerbsunfähigkeit i.S. des § 44 SGB VI a.F. (§ 43 SGB VI n.F.) entwickelt hat. Vielmehr ist die Frage, ob ein Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen (ebenso R 180d Abs. 3 Satz 1 der Einkommensteuer-Richtlinien ―EStR― 2002 und die Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes ―DA-FamEStG― vom 15. März 2002, DA 63.3.6.1 Abs. 2 Satz 1, BStBl I 2002, 366, 369, 397). Der Senat hat in dem Urteil VIII R 58/99 die Auffassung vertreten, dass bei einem zu 100 v.H. schwerbehinderten (querschnittgelähmten) Kind, das eine Berufsausbildung im Rahmen einer staatlich geförderten Berufsbildungsmaßnahme abgeschlossen hat und im Anschluss daran arbeitslos ist, eine tatsächliche Vermutung dafür spricht, dass ursächlich für das Außerstandesein, sich selbst zu unterhalten, die Behinderung und nicht die Lage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist.
Für den im Streitfall vorliegenden Sachverhalt, dass ein Kind wegen einer Muskelerkrankung an den Rollstuhl gebunden ist und nach den tatsächlichen Feststellungen des FG im Falle der Ausübung seines Berufes als Verwaltungsfachangestellter auch bei der Arbeit ständiger Begleitung bedarf, gilt nichts anderes. Das Vorbringen der Revision, gerade im öffentlichen Dienst würden Behinderte bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt und im gesamten öffentlichen Dienst sei man bestrebt, für behinderte Mitarbeiter geeignete Räumlichkeiten vorzuhalten, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, dass der Ausbildungsplatz seines Sohnes im Rahmen seiner Ausbildung bei der Universität auf drei Pflichtplätze angerechnet worden sei. Dies ist gemäß § 10 Abs. 2 SchwbG (nunmehr: § 76 Abs. 2 SGB IX) nur möglich, wenn die Vermittlung in eine berufliche Ausbildungsstelle wegen Art oder Schwere der Behinderung auf besondere Schwierigkeiten stößt. Wenn ein behindertes Kind nur unter Anrechnung auf drei Pflichtplätze einen Ausbildungsplatz erhalten hat und nach Abschluss der Ausbildung von der ausbildenden Behörde nicht weiterbeschäftigt worden ist, dann ist zu vermuten, dass eine danach andauernde Arbeitslosigkeit durch die Art oder Schwere der Behinderung bedingt ist und damit die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt auf der Behinderung beruht. Diese Vermutung konnte der Beklagte nicht mit seinen allgemeinen Hinweisen auf die Situation am Arbeitsmarkt entkräften. Insoweit wäre ein substantiierter Sachvortrag und Nachweis dafür erforderlich, dass im Einzugsbereich des Wohnsitzes des Sohnes auch zahlreiche andere Verwaltungsfachangestellte nach Abschluss ihrer Ausbildung nicht von der ausbildenden Behörde weiterbeschäftigt worden und außerdem in der Folgezeit arbeitslos geblieben sind. An einem derartigen Vortrag mangelt es im Streitfall.
3. Die Vorentscheidung ist rechtsfehlerhaft und aufzuheben, soweit das FG den Beklagten zur Festsetzung von Kindergeld für den Monat August 2000 verpflichtet hat. Insoweit ist die Klage abzuweisen. Der Beklagte hatte mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 9. August 2000 die Kindergeldfestsetzung ab August 2000 aufgehoben. Das FG hat nicht berücksichtigt, dass diese Entscheidung für die Zeit bis einschließlich August 2000 bindend war und deshalb einem neuerlichen Antrag auf Festsetzung von Kindergeld erst ab September 2000 stattgegeben werden konnte. Denn nach den BFH-Urteilen vom 25. Juli 2001 VI R 78/98 (BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88) und VI R 164/98 (BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89) erstreckt und beschränkt sich die Bindungswirkung eines bestandskräftigen, die Gewährung von Kindergeld ablehnenden Bescheids auf die Zeit bis zum Ende des Monates seiner Bekanntgabe (vgl. auch Senatsbeschluss vom 9. Juli 2003 VIII B 40/03, BFH/NV 2003, 1422).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 1129463 |
BFH/NV 2004, 784 |