Leitsatz (amtlich)
Die bei der Auslegung von Steuergesetzen durch § 1 Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes u. a. gebotene Berücksichtigung des Zweckes und der wirtschaftlichen Bedeutung findet, soweit es sich um die Begründung der Steuerpflicht handelt, ihre Grenze an dem möglichen Wortsinn der anzuwendenden Vorschrift.
Normenkette
KVStG § 4; StAnpG § 1 Abs. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob die Gewährung von Darlehen durch die R-AG an die Klägerin auf Grund §§ 3 Abs. 1, 4 KVStG der Gesellschaftsteuer unterliegt. In der für die Entstehung einer eventuellen Steuerschuld maßgebenden Zeit hielt die L-AG sämtliche Aktien der Klägerin. Die Y-AG war mit 40 bis 43 % an der R-AG und mit 20 bis 25 % an der L-AG beteiligt. Die Klägerin nahm zur Erweiterung betrieblicher Anlagen Darlehen bei der R-AG auf. Das Finanzamt (FA) sah in den Darlehensgewährungen durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführungen und zog die Klägerin zur Gesellschaftsteuer heran.
Mit der seit 1. Januar 1966 als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Heranziehung zur Gesellschaftsteuer. Sie ist der Ansicht, die Voraussetzungen des § 4 KVStG seien nicht erfüllt. Das FA hat sich zu dem Vorbringen der Klägerin in der Revision nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision werden die angefochtene Entscheidung, die Einspruchsentscheidung und der Gesellschaftsteuerbescheid vom 7. Mai 1957 aufgehoben.
Es braucht nicht geprüft zu werden, ob durch die Darlehen, auf die sich die Revision bezieht, durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführungen ersetzt wurden (§ 3 Abs. 1 KVStG). Die Steuerpflicht kann auch nicht darauf gestützt werden, die Darlehen seien von Gesellschaftern (§ 3 Abs. 1 KVStG) oder von Personenvereinigungen, an denen die Gesellschafter als Mitglieder oder als Gesellschafter beteiligt sind, gewährt worden (§ 4 KVStG). Darlehnsgeber war eine Aktiengesellschaft, die nicht an der Klägerin beteiligt war; auch Gesellschafter der Klägerin waren nicht an der Darlehensgeberin als Gesellschafter oder als Mitglieder beteiligt.
I.
Die Darlehensgeberin – die R-AG – war, wie sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts (FG) ergibt, nicht Gesellschafter der Klägerin. Alleingesellschafter der Klägerin war zu der für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebenden Zeit vielmehr die L-AG; diese hielt sämtliche Aktien der Klägerin.
II.
Die angefochtene Entscheidung beruht auf der Ansicht, Doppelgesellschafter (§ 4 KVStG) sei die Y-AG; sie sei mit 40 bis 43 % an der Darlehensgeberin und mit mindestens 20 bis 25 % an der L-AG beteiligt gewesen, die sämtliche Aktien der Klägerin gehalten habe. Die Beteiligungen der Y-AG an der Darlehnsgeberin und an der Muttergesellschaft (L-AG) der Klägerin reichten aus, ein Doppelgesellschafterverhältnis zu begründen.
Auf den Gesetzeswortlaut kann die Ansicht des FG nicht gestützt werden, die Y-AG sei Doppelgesellschafter im Sinne des § 4 KVStG. Die Y-AG war an der Darlehensgeberin, nicht aber an der die Darlehen nehmenden Klägerin beteiligt. Die Tatsache, daß sie an der sämtliche Anteile an der Klägerin haltenden L-AG – also mittelbar auch an der Klägerin – beteiligt war, ist nicht geeignet, die Merkmale des § 4 KVStG zu erfüllen. Diese Bestimmung trifft ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut nach nur Fälle, in denen der Gesellschafter sowohl an der Darlehen nehmenden Kapitalgesellschaft als auch an der Darlehen gewährenden Personenvereinigung als Gesellschafter oder als Mitglied beteiligt ist. Beteiligt als Gesellschafter oder als Mitglied kann nur sein, wem die Rechte aus der Gesellschafter- oder Mitgliedsstellung unmittelbar zustehen (vgl. auch § 6 Abs. 2 KVStG).
Als Doppelgesellschafter kommt aber auch die L-AG nicht in Betracht, die sämtliche Anteile an der Klägerin hielt. Sie war nicht als Gesellschafter an der die Darlehen gewährenden R-AG beteiligt; dies folgt aus der Feststellung des FG, die restlichen (nicht von der Y-AG gehaltenen) Beteiligungen an der R-AG und der L-AG entfielen auf unbeteiligte Dritte.
III.
Die Entscheidung des FG beruht ersichtlich auf der durch das Urteil II 19/58 S vom 22. November 1962, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 76 S. 179 – BFH 76, 179 –, BStBl III 1963, 64, aufgegebenen Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (RFH) und des Bundesfinanzhofs (BFH) zum sogenannten organischen Machtkreis (vgl. auch die Urteile II 197/61 U vom 12. Februar 1964, BFH 79, 116 BStBl III 1964, 274; II 215/61 vom 23. März 1966, BFH 86, 402). Das angefochtene Urteil ist allerdings ergangen, bevor der Senat die früher vertretene Rechtsauffassung aufgegeben hat.
Das unter II. dargelegte Auslegungsergebnis kann nicht durch eine ausdehnende Auslegung mit Rücksicht auf den Zweck der Vorschrift in Frage gestellt werden (vgl. hierzu die oben bezeichneten Entscheidungen des Senats). § 4 KVStG dient – ebenso wie der frühere § 7 KVStG 1922 – dem Zweck, Steuerumgehungen zu vermeiden (Urteil II 19/58 S a. a. O.). Der Steuerpflicht soll nicht dadurch ausgewichen werden können, daß die Leistung oder das Darlehen durch eine Einrichtung bewirkt bzw. gewährt wird, auf die der der empfangenden Gesellschaft angehörende Gesellschafter als Mitglied oder als Gesellschafter Einfluß ausüben kann; diesen Zweck bringt das Gesetz in § 4 KVStG auch mit der Überschrift „Doppelgesellschafter” zum Ausdruck.
Zwar ergibt sich aus der amtlichen Begründung zu § 4 KVStG 1934 (RStBl 1934, 1460, 1466), daß bei Erlaß des Gesetzes davon ausgegangen wurde, § 4 KVStG sei entsprechend der Rechtsprechung des RFH zu § 7 KVStG 1922 einer „über den in ihm behandelten Regelfall” hinausgehenden Auslegung fähig. Diese Auffassung ist weder mit dem Wortlaut der Bestimmung vereinbar, noch deckt sie sich mit dem durch den Wortsinn und durch die amtliche Überschrift des § 4 KVStG zum Ausdruck gebrachten Zweck. Der vom Gesetzgeber mit dem Erlaß einer Vorschrift verfolgte Zweck ist für die Auslegung nur insoweit maßgebend, als er im Wortlaut des Gesetzes zum Ausdruck gekommen ist (Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht Bd. 13 S. 261, 267 – BVerfGE 13, 261, 267 –).
IV.
Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise kann nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Nach § 1 Abs. 2 StAnpG sind bei der Auslegung u. a. der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze zu berücksichtigen. Bereits der Wortlaut dieser Bestimmung ergibt, daß die wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Auslegung von Gesetzen keine selbständige Bedeutung hat. Die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze ist zu berücksichtigen; ihr kommt für die Auslegung eines Gesetzes keine ausschlaggebende, nur eine Hilfsfunktion zu (vgl. auch Sammlung der Entscheidungen des Reichsfinanzhofs Bd. 6 S. 284, 286 – RFH 6, 284, 286 –; RFH 14, 199, 201).
Nach dem Urteil II 110/62 vom 28. November 1967 (BFH 91, 132) kann § 1 Abs. 2 StAnpG hinsichtlich der Berücksichtigung der Entwicklung der Verhältnisse, soweit es sich um die Begründung einer Steuerpflicht handelt, nur in dem Sinne verstanden werden, daß sich der das Gesetz Auslegende im Rahmen des möglichen Wortsinnes zu halten hat. Diese Ansicht muß auch für die Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise gelten. Es ist kein Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, zwar bei der Auslegung unter Berücksichtigung der Entwicklung der Verhältnisse im Sinne des § 1 Abs. 2 StAnpG den möglichen Wortsinn als Schranke für die Gesetzesinterpretation anzusehen, dies jedoch bei der Auslegung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Bedeutung der Steuergesetze nicht zu tun.
Wenn in Fällen, in denen es sich um die Begründung einer Steuerpflicht handelt, mit Hilfe der wirtschaftlichen Betrachtungsweise das Gesetz in einer Weise gedeutet wird, die mit dem möglichen Wortsinn nicht mehr vereinbar ist, wird das Gesetz nicht mehr ausgelegt, sondern der in ihm fixierte Steuertatbestand durch den Rechtsanwender ausgedehnt. Eine solche Ausdehnung des Steuertatbestandes ist nicht statthaft, weil es allein dem Gesetzgeber vorbehalten ist, den Kreis der steuerbaren Tatbestände zu bestimmen (vgl. BVerfGE 13, 318, 328 unter III 3). Den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bringt § 1 der Reichsabgabenordnung zum Ausdruck. In dieser Norm ist u. a. von der Erfüllung des Tatbestandes, an den das Gesetz die Steuer knüpft, die Rede. In den dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereich wird eingegriffen, wenn der Steuertatbestand über die – durch den möglichen Wortsinn abgegrenzten – im Gesetz selbst zum Ausdruck gebrachten Wertvorstellungen hinaus ausgeweitet wird. Dies wäre weder mit dem Rechtsstaatsprinzip noch mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der die Verwaltung auf die Ausführung der Gesetze beschränkt, vereinbar (BVerfGE 13, 153, 161).
Fundstellen
Haufe-Index 600709 |
BFHE 1968, 511 |