Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristversäumnis aufgrund verzögerter Paketbeförderung; gleicher Sorgfaltsmaßstab für Behörden wie für Prozeßvertreter
Leitsatz (NV)
1. In den Fällen der Postlaufzeiten bei Inlandsbeförderung kann der Bürger darauf vertrauen, daß die von der Deutschen Bundespost AG nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten und amtlich verlautbarten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Es ist nicht danach zu differenzieren, ob eine Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feier tagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochenenden, beruht.
2. Im Rahmen der von der Deutschen Bundespost verlautbarten Regellaufzeiten braucht ein Verfahrensbeteiligter keine zusätzlichen Vorkehrungen zur Fristwahrung zu treffen.
3. Bei Überschreitung dieser Postlaufzeiten sind an die Sorgfaltspflichten einer Behörde dieselben Anforderungen wie bei einem Prozeßbevollmächtigten zu stellen.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1-2, §§ 97, 120 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) hat der Klage der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) wegen Gewerbesteuer und Gewerbesteuermeßbeträgen für die Erhebungszeiträume 1987 bis 1991 stattgegeben und die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -- FA --) gegen Empfangsbekenntnis am 9. August 1995 zugestellt worden.
Mit Schriftsatz vom 5. September 1995 -- beim FG am folgenden Tage eingegangen -- hat das FA Revision eingelegt. Dem gleichzeitig gestellten Antrag, die Frist zur Begründung der Revision bis zum 8. Dezember 1995 zu verlängern, hat der Vorsitzende des erkennenden Senats mit Schreiben vom 22. September 1995 stattgegeben. Mit Schreiben vom 12. Dezember 1995 -- dem FA mit Postzustellungsurkunde am 20. Dezember 1995 zugestellt -- hat der Vorsitzende des erkennenden Senats das FA darauf aufmerksam gemacht, daß die Revisionsbegründung erst am 11. Dezember 1995 und damit verspätet eingegangen sei und zugleich auf die Möglichkeit hingewiesen, wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Mit Telefax vom 29. Dezember 1995 beantragte das FA, ihm wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu gewähren. Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsgesuches führt es aus:
Die Revisionsbegründung sei mit Postpaket ausweislich des Stempelausdrucks auf dem in Fotokopie beigefügten Einlieferungsschein am 5. Dezember 1995 um 12.00 Uhr bei dem Postamt X in Hamburg aufgegeben worden. Im Hinblick auf die rechtzeitige Fertigstellung und Einlieferung des Schriftstücks habe das FA keine Veranlassung gesehen, von der üblichen Form der Versendung von Schriftsätzen einschließlich der Akten abzuweichen. Es habe darauf vertraut, daß das Postpaket am 7. Dezember 1995, spätestens aber am 8. Dezember 1995, den Bundesfinanzhof (BFH) erreichen werde. Nach dem ihm vorliegenden Informationsmaterial der Deutschen Post AG (einer amtlichen Übersichtskarte über die regulären Postlaufzeiten) ergebe sich, daß Postpakete innerhalb der Bundesrepublik Deutschland 48 Stunden benötigten, um den Empfänger zu erreichen. Nach der ebenfalls beigefügten schriftlichen Bestätigung der Deutschen Post AG vom 15. Dezember 1995 hingen diese Übersichtskarten in jeder Post- Filiale aus. In der Übersichtskarte heiße es ausdrücklich: "Auf diese Laufzeiten können Sie sich verlassen, wenn Sie Ihr Postpaket rechtzeitig hier am Schalter einliefern." Paketschluß sei ebenfalls ausweislich dieser Angaben beim Postamt Hamburg X um 15.30 Uhr gewesen. Somit hätte das Paket den BFH normalerweise fristwahrend am 7. Dezember 1995 erreichen müssen.
Auf fernmündliche Nachfrage des Vertreters des FA habe Herr Y von der Postdirektion Hamburg zudem bestätigt, daß bei 99 v. H. aller Paket-Sendungen diese Laufzeiten eingehalten werden würden, und zwar auch in der Vorweihnachtszeit. Verzögerungen bei der Postbeförderung und -zustellung dürften nach der ständigen Rechtsprechung nicht dem Rechtsmittelführer als Verschulden zugerechnet werden. Angesichts der auch für Postpakete verlautbarten Laufzeiten könne insoweit nicht zwischen einfachen Briefsendungen und Paketen differenziert werden.
Die Klägerin beantragt, den Wiedereinsetzungantrag zurückzuweisen und die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die vom FA gewählte Übermittlungsart indiziere angesichts der Zeitspanne von drei Tagen zwischen Absendung und Ablauf der Revisionsbegründungsfrist ein Verschulden des Vertreters des FA (vgl. BFH-Urteil vom 31. Juli 1962 I 316/61 U, BFHE 75, 386, BStBl III 1962, 406). Der Vorsteher des FA hätte anordnen müssen, gegen Ende einer solchen Frist die Revisionsbegründung zumindest per einfachem Brief aufzugeben. Das Vertrauen des FA auf den rechtzeitigen Eingang sei nicht schutzwürdig. Nutze der Rechtsmittelführer die Frist bis zum letzten Tage aus, so müsse er sich durch Rückfrage beim Gericht über den Eingang der Revisionsschrift Gewißheit verschaffen (Koch/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 56 Rdnr. 33). Eine solche Rückfrage sei angesichts der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten auch zumutbar. Mit Hilfe von Telefax könne dann unabhängig von den Postlaufzeiten ein Schriftsatz notfalls noch fristwahrend angebracht werden (vgl. BFH-Beschluß vom 12. Oktober 1995 I R 25/95, BFH/NV 1996, 237). Anlaß zur Nachfrage habe um so mehr in der Vorweihnachtszeit und wegen der vom FA betonten Bedeutung des Rechtsstreits als Musterverfahren bestanden.
Die Klägerin regt ferner an, aus prozeßökonomischen Gründen vorab über die Wiedereinsetzung zu entscheiden.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision ist nicht rechtzeitig begründet worden.
Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO muß die Revision innerhalb eines Monats nach Ablauf der Frist zur Revisionseinlegung begründet werden (vgl. BFH-Beschluß vom 1. Dezember 1986 GrS 1/85, BFHE 148, 414, BStBl II 1987, 264). Die Frist für die Revisionsbegründung kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag durch den Vorsitzenden des zuständigen Senats des BFH verlängert werden (§ 120 Abs. 1 Satz 2 FGO).
Im Streitfall ist die -- verlängerte -- Revisionsbegründungsfrist am Freitag, dem 8. Dezember 1995, abgelaufen gewesen. Die Revisionsbegründung ist indessen erst am Montag, den 11. Dezember 1995, also nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist, beim BFH eingegangen.
2. Dem FA wird wegen Versäumung dieser Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 Abs. 1 FGO gewährt.
a) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist gehindert war (§ 56 Abs. 1 FGO). In formeller Hinsicht setzt die Wiedereinsetzung voraus, daß innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt wird (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 3 FGO) und diejenigen Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll (ständige Rechtsprechung, BFH-Urteil vom 27. März 1985 II R 118/83, BFHE 144, 1, BStBl II 1985, 586).
b) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dürfen Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder -zustellung, die der Rechtsmittelführer nicht zu vertreten hat und auf die er auch keinen Einfluß besitzt, nicht als dessen Verschulden gewertet werden. In Fällen der Postlaufzeiten bei Inlandsbeförderung kann der Bürger darauf vertrauen, daß die von der Deutschen Post AG nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden (vgl. BFH-Beschluß vom 6. April 1995 VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 137, 138, m. umf. N.; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 110 AO 1977 Rdnr. 58, m. umf. N.).
Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochenenden, beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es vielmehr erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seines Rechtes den Diensten der Deutschen Post AG anvertraut, gleich zu behandeln (vgl. BVerfG- Beschluß vom 27. Februar 1992 1 BvR 1294/91, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 394, m. w. N.; BFH-Beschluß vom 9. Januar 1990 VII B 127/89, BFH/NV 1990, 473, 474; BFH-Urteil vom 26. Oktober 1983 IV R 89/82, nicht veröffentlicht -- NV --, m. w. N.). In der Verantwortung des Beteiligten liegt es nur, das zu befördernde Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend und so rechtzeitig zur Post zu geben, daß es nach diesen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG bei regelmäßigem Dienstablauf den Empfänger fristgerecht erreicht (BFH-Urteil vom 11. Januar 1994 IX R 90/92, BFH/NV 1994, 633, 634; Beschluß vom 15. Juli 1992 X B 13/92, BFH/NV 1992, 763, m. w. N.).
Die Dauer einer Inlandsbeförderung ist nach den amtlichen Verlautbarungen der Deutschen Post AG und dem Erfahrungswissen der Gerichte grundsätzlich gerichtsbekannt (BFH/NV 1996, 137, 138, m. w. N.).
Entsprechendes -- wie für die Briefbeförderung -- gilt, wenn der Prozeßbeteiligte die Beförderung mit der Paketpost wählt, auch wenn er die Briefpost benutzen könnte. In diesem Fall muß er die gegenüber der Briefpost abweichenden längeren Paketlaufzeiten in Rechnung stellen und das Paket so rechtzeitig aufgeben, daß es bei störungsfreiem Lauf innerhalb der zu wahrenden Frist eingeht (vgl. BFH-Urteil vom 29. April 1981 IV R 128-129/76, BFHE 134, 102, BStBl II 1982, 17, insoweit NV).
Der Bürger kann grundsätzlich Rechtsmittelfristen bis zum letzten Tag ausschöpfen, ohne sich insoweit rechtfertigen zu müssen. Er ist im Rahmen der von der Deutschen Post AG verlautbarten Regellaufzeiten auch nicht gehalten, zusätzliche Vorkehrungen zur Fristwahrung zu treffen (vgl. BFH-Urteil vom 21. Dezember 1990 VI R 10/86, BFHE 163, 400, BStBl II 1991, 437, 438). Gegen Ende der Rechtsmittelfrist obliegt es ihm lediglich, bei Inanspruchnahme der Post eine Beförderungsart zu wählen, die -- unter Berücksichtigung der normalen Postlaufzeiten -- diese Einhaltung der Frist gewährleistet (vgl. BFH/NV 1990, 473, 474). Ist diese übliche Postlaufzeit überschritten, so kommt es nicht mehr darauf an, auf welchen Gründen die Verzögerung beruht (BFH/NV 1990, 473, 475).
Insbesondere trifft den Prozeßbeteiligten in diesem Rahmen weder eine zusätzliche Erkundigungspflicht bei der Empfangsbehörde noch ist er verpflichtet, alternative Beförderungsmittel zu nutzen (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 28. März 1994 2 BvR 814/93, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 1854; vom 11. Januar 1991 1 BvR 1435/89, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1991, 672).
Schließlich sind nach der ständigen Rechtsprechung des BFH zur FGO bei der Überschreitung von Postlaufzeiten an die Sorgfaltspflichten bei einer Behörde dieselben Anforderungen zu stellen, wie bei einem Prozeßbevollmächtigten (vgl. BFH-Urteil vom 19. Juli 1994 II R 74/90, BFHE 175, 302, BStBl II 1994, 946, 947; Beschluß vom 23. April 1993 III R 73/91, BFH/NV 1993, 746, 747, m. w. N.; Urteil vom 24. Juni 1988 III R 177/85, BFH/NV 1989, 351; so bereits Beschluß vom 27. Januar 1967 VI R 250/66, BFHE 88, 75, BStBl III 1967, 291, und Urteil vom 28. März 1969 III R 2/67, BFHE 96, 85, BStBl II 1969, 548, 549).
Die noch zu § 86 der Reichsabgabenordnung vertretene gegenteilige Auffassung (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10. Oktober 1961 I 63/60 U, BFHE 73, 795, BStBl III 1961, 555, und vom 31. Juli 1962 I 316/61 U, BFHE 75, 386, BStBl III 1962, 406) hat sowohl der I. Senat im Beschluß vom 23. August 1967 I R 55/67 (BFHE 90, 93, BStBl III 1967, 785) für die Anwendung der FGO aufgegeben als auch insgesamt der BFH angesichts der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. etwa BFH-Urteil vom 29. April 1981 IV R 128-129/76, insoweit NV).
c) In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist dem FA Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zu gewähren.
Das FA hat durch Vorlage des Einlieferungsscheins i. V. m. dem Poststempel glaubhaft gemacht, daß es die Revisionsbegründung am 5. Dezember 1995 um 12.00 Uhr bei dem Postamt X in Hamburg aufgegeben hat. Es durfte -- auch unter Berücksichtigung der gewählten Übermittlungsart (Postpaket) -- entsprechend den von der Deutschen Post AG in Form von in jeder Filiale ausgehängten amtlichen Übersichten verlautbarten Postlaufzeiten davon ausgehen, daß bei einem regelmäßigen Betriebsablauf die Sendung innerhalb von 48 Stunden und damit fristgerecht bis spätestens zum 8. Dezember 1995 beim BFH ausgeliefert werden würde.
Das FA hatte angesichts der hiernach ausreichenden Zeitspanne und der gewählten Beförderungsart sowie mangels besonderer Umstände, wie z. B. einem Poststreik, keinen Anlaß, sich ausnahmsweise durch einen Anruf beim BFH noch am Tage des Fristablaufs (8. Dezember 1995) Gewißheit über den Eingang des rechtzeitig zur Post aufgegebenen Schriftsatzes zu verschaffen und ggf. auf andere Weise, z. B. durch Telefax, noch für einen rechtzeitigen Zugang zu sorgen. Dem von der Klägerin angeführten Urteil des BFH in BFH/NV 1996, 237 ist insoweit nichts Gegenteiliges zu entnehmen.
Fundstellen