Entscheidungsstichwort (Thema)
Überspannte Anforderungen an Wiedereinsetzungsvoraussetzungen wegen falscher Auskunft über Postlauf. Revisionszulassung als Zulässigkeitsvoraussetzung gemäß § 115 FGO verfassungsmäßig
Leitsatz (redaktionell)
1. Es verstößt gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs, wenn die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung versagt wird, wegen eines Hinweises am Briefkasten auf die Einlieferung als Eilsendung habe der Prozeßbevollmächtigte der Auskunft eines Schalterbeamten der Post, für den fristgerechten Zugang am nächsten Tag genüge die Sendung als einfacher Brief, nicht vertrauen dürfen. Der Bürger darf ihm gegebene Fristen – unter Berücksichtigung des regelmäßigen Postlaufes – bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausnutzen. Auch darf die Verantwortung für die interne Organisation der Post im Hinblick auf rechtsstaatliche Grundsätze nicht auf den Bürger abgewälzt werden
2. § 115 FGO i. V. mit BFHEntlG Art. 1 genügt den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Anforderungen; es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen statthaft sein sollen, das GG trifft hierzu keine Bestimmungen. Der Zugang zur Revisionsinstanz wird durch diese Regelung nicht in unzumutbarer und aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3; FGO §§ 56, 115; BFHEntlG Art. 1
Verfahrensgang
BFH (Beschluss vom 23.05.1989; Aktenzeichen VII B 96/89) |
FG Berlin (Urteil vom 06.05.1988; Aktenzeichen III 313/87) |
Tatbestand
Der Beschwerdeführer betreibt seine Wiederzulassung als Steuerberater und wendet sich gegen finanzgerichtliche Entscheidungen, unter anderem gegen die Verwerfung seiner Revision als unzulässig.
I.
1.a) Der Beschwerdeführer beantragte im Februar 1987 beim Senator für Finanzen in Berlin seine Wiederzulassung als Steuerberater. Die gegen den ablehnenden Bescheid gerichtete Klage wies das Finanzgericht Berlin mit Urteil vom 6. Mai 1988 ab. Der Entscheidung war eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt.
b) Am 11. Juli 1988 legte der Beschwerdeführer Revision ein. Auf seinen Antrag wurde die Frist zur Begründung der Revision bis zum 12. September 1988 verlängert. Mit Schriftsatz vom 9. September 1988 – eingegangen beim Bundesfinanzhof am 13. September 1988 – beantragte der Beschwerdeführer erneute Fristverlängerung bis zum 1. November 1988. Vom Vorsitzenden des Senats wurde er auf den Ablauf der Revisionsbegründungsfrist, den verspäteten Eingang des Antrags auf Fristverlängerung und § 56 FGO (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) hingewiesen. Mit Schriftsatz vom 30. September 1988 beantragte der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er habe den Schriftsatz vom 9. September 1988 am Sonntag, den 11. September 1988, als Eilbrief postfertig gemacht, ihn gegen 16.00 Uhr zum Postamt des Bahnhofs Zoo gebracht und dort in den Briefkasten eingeworfen. Bei dem Postbediensteten am Schalter habe er zuvor die ausreichende Frankierung überprüfen lassen. Dabei habe ihn der Beamte darauf hingewiesen, daß eine Eilsendung nicht nötig sei, weil der Briefeinwurf „noch vor 20.00 Uhr” erfolge und deshalb ein Zugang am darauffolgenden Tag auch für einfache Briefe gewährleistet sei.
Die Geschäftsstelle machte den Beschwerdeführer darauf aufmerksam, daß der Briefumschlag den Tagesstempel des Postamts Berlin 11 vom 12. September 1988, 15.00 Uhr, trage. Der Beschwerdeführer übersandte daraufhin ein Schreiben des Postamts 11 in Berlin, in dem es unter anderem heißt: Der eingelieferte Eilbrief sei pünktlich und ordnungsgemäß behandelt worden. Allerdings habe die Sendung durch die unkorrekten Angaben des Schalterbeamten einen falschen Beförderungslauf erhalten. Neben dem Hinweis an allen Briefkästen „Eilsendungen bitte bei den Postämtern einliefern” sei eine falsche Information gegeben worden. Alle zur Sonntagsleerung eingelieferten Sendungen (8.00 bis 12.00 Uhr) würden noch am selben Tag bearbeitet und in das Bundesgebiet geschickt. Die Bearbeitung dieser Sendungen ende beim Postamt 11 gegen 16 Uhr. Alle eingelieferten Sendungen, die über Briefkäste nach der Sonntagmittag-Leerung einträfen, würden erst am Montagnachmittag bearbeitet. Im Falle des Beschwerdeführers hätte der Schalterbeamte beim Postamt daher die Sendung entgegennehmen müssen. Sie wäre dann noch von einer anderen Dienststestelle bearbeitet worden und rechtzeitig eingegangen.
Mit Beschluß vom 23. Mai 1989 (VII R 67/88) verwarf der Bundesfinanzhof die Revision des Beschwerdeführers als unzulässig. Die verlängerte Frist für die Begründung der Revision sei am 12. September 1988 abgelaufen. Der Antrag auf weitere Verlängerung sei erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist beim Bundesfinanzhof eingegangen. Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden, da der Beschwerdeführer nicht dargetan habe, daß er oder sein Prozeßbevollmächtigter ohne Verschulden gehindert gewesen seien, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers habe die von ihm zu erwartende äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht walten lassen. Dieses Verschulden habe sich der Beschwerdeführer wie eigenes Verschulden zurechnen zu lassen. Es sei nicht als entschuldbar anzusehen, daß der Prozegbevollmächtigte trotz der angeblich erhaltenen Auskunft den Brief nicht doch bei dem auskunftgebenden Schalterbeamten aufgegeben habe. Hätte er das getan, wäre der Brief rechtzeitig beim Bundesfinanzhof eingegangen. Der Hinweis an den Briefkästen, daß Eilsendungen bei den Postämtern einzuliefern seien, hätte den Prozeßbevollmächtigten davon abhalten müssen, den Brief in den Briefkasten einzuwerfen.
c) Parallel zu der erhobenen Revision und dem Antrag auf Wiedereinsetzung beantragte der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 4. Januar 1989 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der nicht eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde. Er habe erst bei der Akteneinsicht am 30. Dezember 1988 festgestellt, daß „die verabsäumte Nichtzulassungsbeschwerde der richtige Rechtsbehelf sein könne”.
Mit Beschlug vom 23. Mai 1989 (VII B 96/89) verwarf der Bundesfinanzhof den als Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gedeuteten Antrag auf Wiedereinsetzung als unzulässig. Die Nichtzulassungsbeschwerde sei nicht innerhalb der Frist des § 115 Abs. 3 Satz 1 FGO eingegangen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einlegungsfrist komme schon deswegen nicht in Betracht, weil es an der Glaubhaftmachung der Tatsachen zur Begründung des Antrags fehle und überdies die versäumte Rechtshandlung, d.h. die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde, nicht innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden sei.
2. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Entscheidung des Finanzgerichts und die beiden Verwerfungsbeschlüsse des Bundesfinanzhofs. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 1 und Art. 3 GG. Gegen den Gleichheitssatz verstoße es, daß der Gesetzgeber Berufssachen der Steuerberater von der Zulassung bzw. der erfolgreichen Erhebung einer Nichtzulassungsbeschwerde abhängig mache. Das Recht auf rechtliches Gehör sei darüber hinaus verletzt, da ihm der verspätete Eingang des Antrags auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist angelastet werde. Er ist der Ansicht, sein Bevollmächtigter habe auf die Auskunft des Postbeamten vertrauen und den Schriftsatz deshalb in den Briefkasten einwerfen dürfen.
3. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Senator für Finanzen des Landes Berlin, dem Bundesminister der Justiz und der Steuerberaterkammer Berlin zugestellt. Stellungnahmen zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde gingen nicht ein.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist insoweit begründet, als der Beschwerdeführer die Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und damit die Verwerfung der Revision als unzulässig angreift (Beschluß vom 23. Mai 1989 – VII R 67/88 –). Der angegriffene Beschluß verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen (vgl. BVerfGE 53, 25 ≪28≫ m.w.N.). Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um einen das Verfahren einleitenden Schriftsatz oder um eine Rechtsmittelschrift handelt (vgl. BVerfGE 44, 302 ≪306≫; 54, 80 ≪84≫). Der Bürger darf die ihm gegebenen Fristen bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausnutzen. Es liegt jedoch in seiner Verantwortung, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig zur Post zu geben, daß es nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgerecht erreicht (vgl. BVerfGE 62, 33ü ≪337≫).
Ob der Beschwerdeführer diesen Anforderungen gerecht wurde, stellt eine Frage des einfachen Rechts dar, dessen Auslegung und Anwendung Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte ist. Sie ist der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht solange entzogen, als nicht Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (st. Rspr.; vgl. zuletzt BVerfGE 79, 372 ≪376≫). Dies ist hier der Fall.
b) Dabei kann für die verfassungsrechtliche Würdigung offenbleiben, ob der Beschwerdeführer ausreichend glaubhaft machen konnte, daß er von dem Schalterbeamten des Postamts Bahnhof Zoo eine falsche Auskunft erhalten hat. Der Bundesfinanzhof hat das nicht entschieden, sondern nur unterstellt (vgl. S. 5 der Entscheidung); das Bundesverfassungsgericht hat den Sachverhalt zugrunde zu legen, von dem die angegriffene Entscheidung ausgeht.
c) Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers durfte auf die Auskunft des Schalterbeamten vertrauen. Sie wurde ihm unaufgefordert erteilt, als er die ausreichende Frankierung des Briefes überprüfen ließ. Gerade solche unaufgefordert gegebenen Hinweise müssen bei dem Empfänger den Eindruck vermitteln, daß die Auskunft auf sicherer Sachkenntnis beruht. Wenigstens überschreitet es die Grenze des Zumutbaren, wenn der Bundesfinanzhof von dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers verlangt, sich über die Auskunft des Schalterbeamten hinwegzusetzen. Dazu gab auch der Aushang, der sich bei den Briefkästen befand und auf Eilsendungen bezog, keinen Anlaß. Die erteilte Auskunft besagte ja gerade, daß keine Eilsendung erforderlich sei, um den rechtzeitigen Zugang des Briefes zu gewährleisten. Wenn der Bundesfinanzhof dennoch verlangt, den Zusicherungen zu mißtrauen, so wälzt er die Verantwortung für die interne Organisation der Post auf den Bürger ab, der diesen Bereich weder beurteilen noch beeinflussen kann. Es entspricht jedoch rechtsstaatlichen Grundsätzen, daß dem Rechtsuchenden gerade in Fristsachen klar, erkennbar sein muß, was er zu tun hat, um einen Rechtsverlust zu vermeiden (BVerfGE 69, 381 ≪386≫).
Der angegriffene Beschluß beruht auch auf dem gerügten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Bundesfinanzhof Wiedereinsetzung gewährt hätte, wenn er bei der Anwendung und Auslegung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand den dargelegten Grundsätzen Rechnung getragen hätte.
2. Die Rüge des Beschwerdeführers, es verstoße gegen Art. 103 Abs. 1 und Art. 3 GG, daß der Gesetzgeber Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Finanzgerichte von einer Revisionszulassung abhängig gemacht hat, ist unbegründet. Zugunsten des Beschwerdeführers ist sie so zu verstehen, daß eine Verletzung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG geltend gemacht werden soll. Aber auch mit dieser Begründung kann die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg haben.
Die Vorschrift des § 115 FGO in Verbindung mit Art. 1 BFH-Entlastungsgesetz genügt den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Anforderungen. Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen statthaft sein sollen; das Grundgesetz selbst trifft dazu keine Bestimmungen (st. Rspr.; vgl. BVerfGE 11, 232 ≪233≫; 74, 228 ≪234≫). Sieht der Gesetzgeber allerdings ein Rechtsmittel vor, so ist er in der Ausgestaltung der Zugangs- und Zulässigkeitsvorschriften nicht völlig frei. Inbesondere darf er den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in einer Weise erschweren, die dem Bürger unzumutbar und aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist (BVerfGE 69, 381 ≪385≫ m.w.N.; 74, 228 ≪234≫). Diesen Grundsätzen wird die beanstandete Regelung gerecht. Aus den §§ 115 ff. FGO – und auch aus der dem Beschwerdeführer mitgeteilten Rechtsmittelbelehrung – ergibt sich eindeutig, unter welchen Voraussetzungen die Revision zuzulassen oder ohne Zulassung statthaft ist. Darauf konnte der Beschwerdeführer sein Verhalten einrichten.
3. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde, soweit sie das Urteil des Finanzgerichts Berlin angreift. Zum einen fehlt insoweit jede Begründung. Zum anderen handelt es sich um einen Hoheitsakt des Landes Berlin, der wegen des Berlinvorbehalts der westlichen Alliierten derzeit nicht der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts unterliegt (BVerfGE 37, 57 ≪62≫).
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen