Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff des Steuerpflichtigen, Tätigkeit als Rechtsanwalt, Unternehmereigenschaft eines Rechtsanwalts, Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft, Verfahrensrecht
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 9 Abs. 1
Beteiligte
Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generala Regionala a Finanţelor Publice Bucureşti |
Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice |
Verfahrensgang
Curte de Apel Bucuresti (Rumänien) (Beschluss vom 15.02.2019; ABl. EU 2019, Nr. C 288/29) |
Tenor
1. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger” im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, im Rahmen eines die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreits den Grundsatz der Rechtskraft anzuwenden, wenn sich dieser Rechtsstreit weder auf einen Besteuerungszeitraum bezieht, der mit dem identisch ist, um den es in dem Rechtsstreit ging, der der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde lag, noch den gleichen Gegenstand wie dieser hat, und wenn die Anwendung dieses Grundsatzes die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerregelung durch dieses Gericht behindern würde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 15. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 2019, in dem Verfahren
Cabinet de avocat UR
gegen
Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generala Regionala a Finanţelor Publice Bucureşti,
Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice,
MJ,
NK
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Cabinet de avocat UR, vertreten durch D. Radescu, avocat,
- der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch C. R. Canţar, R. I. Haţieganu und A. Rotareanu, dann durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Rotareanu als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Armenia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) und des Grundsatzes der Rechtskraft.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Cabinet de avocat UR (Rechtsanwaltskanzlei UR, im Folgenden: UR) auf der einen Seite und der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generala Regionala a Finanţelor Publice Bucureşti (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, vertreten durch die regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest, Rumänien), der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, Rumänien), MJ und NK auf der anderen Seite darüber, ob UR mehrwertsteuerpflichtig ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…”
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Nationales Recht
Rz. 5
Art. 431 („Wirkungen der Rechtskraft”) des Codul de procedura civila (Zivilprozessordnung) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Niemand kann zweimal in derselben Eigenschaft, aus demselben Rechtsgrund und mit demselben Gegenstand verklagt werden.
(2) Jede Partei kann die Rechtskraft einer früheren Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einwenden, wenn ein Zusammenhang mit dieser Entscheidung besteht.”
Rz. 6
Das vorlegende Gericht führt aus, dass die „negative oder auslöschende” Wirkung der Rechtskraft einer erneuten Entscheidung entgegenstehe, wenn Parteiidentität gegeben sei und es um dieselbe Rechtssache und um denselben Klagegegenstand gehe, während die „positive Wirkung”...