Dr. Dino Höppner, Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 362
Eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten kann nur gebildet werden, wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine Inanspruchnahme erfolgt und ein vorsichtiger Kaufmann dafür Vorsorge treffen wird. Durch das Erfordernis der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme unterscheidet sich die Passivierung einer Rückstellung von der einer Verbindlichkeit. Eine Verbindlichkeit, bei der Grund und Höhe gewiss sind, ist immer zu passivieren; eine Ausnahme besteht nur für Verbindlichkeiten, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfüllt werden müssen. Es besteht jedoch grundsätzlich die Vermutung, dass eine bestehende Verpflichtung erfüllt werden muss; es müssen daher besondere Umstände vorliegen, die die Inanspruchnahme als sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen. Eine bestehende Verbindlichkeit ist daher auch dann zu passivieren, wenn die Inanspruchnahme aus ihr zwar unwahrscheinlich, aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen der Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme und der Wahrscheinlichkeit des Bestehens der Verbindlichkeit überhaupt.
Vgl. auch die Ausführungen unter Rz. 458 "Schadensersatzforderungen".
Rz. 363
Ungewisse Verbindlichkeiten, d. h. Rückstellungen, setzen für die Passivierung als Rückstellung dagegen einen höheren Grad der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme voraus. Hierfür muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme gegeben sein. Ist die Inanspruchnahme unwahrscheinlich, darf, anders als bei (gewissen) Verbindlichkeiten, keine Passivierung erfolgen. Die Begrenzung der Bildung der Rückstellung auf wahrscheinliche Verbindlichkeiten entspricht Art. 20 der 4. EG-Richtlinie.
Rz. 363a
Es kann nicht dem Ermessen des Kaufmanns überlassen bleiben, ob er eine Belastung sieht und daher eine Rückstellung zu bilden hat; eine solche subjektive Einschätzung würde dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zuwiderlaufen. Das Bestehen der Belastung muss daher aus einem objektiven Gesichtspunkt beurteilt werden ("Objektivierung der Rückstellung"). Eine durch eine Rückstellung zu berücksichtigende, objektivierte Verbindlichkeit besteht dann, wenn die Inanspruchnahme des Kaufmanns aus der Verbindlichkeit wahrscheinlich ist.
Rz. 363b
Bei der Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme ist nach dem Prinzip der Einzelbilanzierung und -bewertung grundsätzlich auf das einzelne Rechtsverhältnis abzustellen. Besteht allerdings eine Mehrzahl gleicher oder gleichartiger Verpflichtungen, bei denen die Ermittlung des jeweiligen Einzelrisikos unmöglich, schwierig oder unzumutbar ist, ist es zulässig, den Gesamtbestand der Verbindlichkeiten der Prüfung zugrunde zu legen, ob eine Inanspruchnahme wahrscheinlich ist. Rückstellungen dürfen danach nicht gebildet werden, soweit aus dem Gesamtbestand der Verpflichtungen eine Inanspruchnahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfolgen wird. Die (bestehende) rechtliche Verpflichtung hat für den Kaufmann dann keine wirtschaftliche Bedeutung mehr. Trotzdem gilt das Vorsichtsprinzip. Der Nichtausweis einer Verpflichtung kommt erst dann in Betracht, wenn aus den Erfahrungen der Vergangenheit darauf geschlossen werden kann, dass aus dem Gesamtbestand der Verpflichtungen ein bestimmter Teil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht geltend gemacht wird. Hierfür ist ein längerer Erfahrungszeitraum erforderlich. Das sog. "Gesetz der großen Zahl" ist daher nicht nur bei der Bewertung, sondern auch bei der Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme zugrunde zu legen.
Rz. 363c
Beispiele sind etwa geringfügige Verbindlichkeiten, aber auch höhere Verbindlichkeiten, wie bei Garantierückstellungen oder Rückstellungen für ungewisse Verpflichtungen aus Arbeitsverhältnissen.
Rz. 364
Die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme ist nach einem objektiven Maßstab aus der Sicht eines gewissenhaften und ordentlichen Kaufmanns aufgrund der am Bilanzstichtag vorliegenden Umstände, u. U. unter Berücksichtigung der bis zur Bilanzaufstellung erkennbar werdenden Tatsachen, zu beurteilen.
Rz. 365
Die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme besteht, wenn mehr Gründe für als gegen das Be- oder Entstehen der Verbindlichkeit und die Inanspruchnahme bestehen; der Stpfl. darf also nicht die pessimistischste Alternative zugrunde legen, wobei nicht die Zahl, sondern die Gewichtigkeit der Gründe maßgebend ist. Entscheidend ist dabei nicht eine mathematische Wahrscheinlichkeitsberechnung; es ist vielmehr eine kaufmännische Risikoabwägung vorzunehmen. Die Beurteilung, ob eine solche Inanspruchnahme erfolgen wird, steht zwar grundsätzlich im Ermessen des Kaufmanns, da er seine Verhältnisse am besten übersehen kann. Maßgebend für diese Ausübung des Ermessens dürfen aber nicht subjektive Erwartungen und Befürchtungen des Stpfl. sein. Die Beurteilung des Kaufmanns muss sich vielmehr...