Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung - Fehlende Anhörung des Betriebsrats, Einheitlicher Betrieb
Orientierungssatz
1. Sieht das Berufungsgericht einen Vortrag nicht als verspätet an und berücksichtigt es ihn, so kann diese Tatsache in der Revision nicht gerügt werden.
2. Ein einheitlicher Betrieb liegt dann vor, wenn sich aus den gesamten Umständen des Einzelfalles ergibt, daß die Parteien eine rechtliche Vereinbarung über die einheitliche Leitung getroffen haben. Diese rechtliche Vereinbarung kann sich auch konkludent aus den näheren Umständen des Einzelfalles ergeben. Sie ist dann anzunehmen, wenn die Arbeitgeberfunktionen im Bereich der sozialen und personellen Angelegenheiten von einem Leitungsapparat der beteiligten Unternehmen wahrgenommen werden, nicht aber auch die unternehmerischen Funktionen im Bereich der wirtschaftlichen Angelegenheiten.
Verfahrensgang
LAG Köln (Entscheidung vom 23.03.1990; Aktenzeichen 1 Sa 1002/89) |
ArbG Bonn (Entscheidung vom 23.08.1989; Aktenzeichen 4 Ca 898/89) |
Tatbestand
Der am 21. Oktober 1938 geborene Kläger war seit 1. September 1980 als einziger Arbeitnehmer bei der Beklagten beschäftigt. Diese ist eine 100 %ige Tochtergesellschaft des "I " (i). Der Kläger ist Systemanalytiker und war verantwortlich für das Computerdesign und das Grafiksystem. Er arbeitete zusammen mit einem Herrn C, der bei i angestellt war.
Nach vergeblicher Forderung einer Überstundenvergütung kündigte der Kläger mit Anwaltsschreiben vom 5. Mai 1989 sein Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 1989.
Mit Schreiben vom 10. Mai 1989 kündigte die Beklagte ihrerseits das Arbeitsverhältnis zum Kläger fristlos aus wichtigem Grund.
Die Beklagte berief sich im wesentlichen darauf, im Zusammenhang mit der Freistellung des Klägers am 10. Mai 1989 sei es zu unliebsamen Auseinandersetzungen gekommen. Der Kläger habe versucht, Disketten mitzunehmen, die infas dringend benötigt habe, später habe sie noch erfahren, daß der Kläger unter dem Namen "i" Software für sich bestellt habe.
Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Er bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Erstmals in zweiter Instanz hat er geltend gemacht, vor seiner Kündigung hätte der Betriebsrat von i angehört werden müssen, denn i und die Beklagte unterhielten einen gemeinsamen Betrieb. Er hat dazu im einzelnen vorgetragen, die Büroräume beider Firmen seien nicht getrennt, Geschäftsführer der Beklagten sei Herr L, der zugleich mit Frau G und Herrn V auch Geschäftsführer von i sei. Alle drei Geschäftsführer von i leiteten gemeinschaftlich auch die Beklagte. Eine Trennung der Verwaltungstätigkeit liege nicht vor. Buchhaltung und Verwaltung würden von i erledigt, die Schreibarbeiten würden neutral in einem Sekretariat ausgeübt. Seine Gehaltsabrechnungen würden von der Geschäftsführerin G von i erstellt, sie beruhten auf Zeiterfassungskarten von i. Reisekostengenehmigungen und Reisekostenabrechnungen seien durch i erfolgt. Beide Gesellschaften verfügten über ein gemeinschaftliches Telefonnetz und eine gemeinsame Kantine. Schließlich habe er ständig mit Herrn C, dem Mitarbeiter von i, in einem gemeinsamen Büro zusammengearbeitet. Auch die Umstände im Zusammenhang mit seiner Kündigung sprächen für das Vorliegen eines gemeinsamen Betriebes, denn seine Freistellung und Aufforderung zur sofortigen Räumung sei von der Geschäftsführung von i erfolgt.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das zwischen den Parteien
bestehende Arbeitsverhältnis durch die frist-
lose Kündigung der Beklagten vom 10. Mai 1989
nicht beendet worden sei, sondern bis zum
30. Juni 1989 fortbestehe.
Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt. Sie hat geltend gemacht, der Einwand der nicht ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrates sei verspätet. Zudem bilde sie zusammen mit i keinen gemeinsamen Betrieb, sie unterhalte überhaupt keinen Betrieb. Der vorhandene Betrieb stehe unter der alleinigen Leitung von i. Über Sachen und immaterielle Güter als Grundlage der Betriebsorganisation verfüge i. Dies gelte auch für die übrigen vom Kläger genannten Tätigkeiten.
Das Arbeitsgericht hat die Klage des Klägers auf Feststellung, daß das Arbeitsverhältnis nicht durch die fristlose Kündigung beendet worden sei, zurückgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat unter Abänderung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung der Klage stattgegeben. Hiergegen richtet sich die Revision der Beklagten, um deren Zurückweisung der Kläger bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, die Kündigung der Beklagten sei nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam.
I. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Kündigung sei unwirksam, weil der bei i bestehende Betriebsrat nicht angehört worden sei. Dies wäre notwendig gewesen, denn die Beklagte und i bildeten einen gemeinsamen Betrieb.
Der Einwand der nicht ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrates sei auch nicht verspätet; weder die Parteien noch das Arbeitsgericht hätten die Frage der Anhörung des Betriebsrates zur Sprache gebracht. Der Einwand sei auch berechtigt. Denn unter Zugrundelegung der vom Kläger vorgetragenen Tatsachen sei ohne weitere Beweisaufnahme davon auszugehen, die Beklagte und infas bildeten einen gemeinsamen Betrieb, so daß der Betriebsrat von infas anzuhören gewesen wäre.
II. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
1. Die auch in der Revision erhobene Rüge, das Landesarbeitsgericht habe § 67 Abs. 1 ArbGG in Verbindung mit § 528 Abs. 2 ZPO nicht beachtet, ist nicht begründet. Sieht das Berufungsgericht einen Vortrag nicht als verspätet an und berücksichtigt es ihn, so kann diese Tatsache in der Revision nicht gerügt werden (vgl. Grunsky, ArbGG, 6. Aufl., § 67 Rz 12; Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, § 67 Rz 32, jeweils m.w.N.). Das Landesarbeitsgericht hatte auch keinen Anlaß, den Vortrag als verspätet zurückzuweisen. Nach § 67 Abs. 1 ArbGG sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszug entgegen einer hierfür nach § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder § 61 a Abs. 3 oder 4 ArbGG gesetzten Frist nicht vorgebracht worden sind, nur zuzulassen, wenn nach der freien Überzeugung des Landesarbeitsgerichts ihre Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder wenn die Partei die Verspätung genügend entschuldigt. Im vorliegenden Fall ist schon durch den neuen Vortrag in zweiter Instanz zudem überhaupt keine Verzögerung eingetreten, denn das Landesarbeitsgericht konnte aufgrund des beiderseitigen Vortrags der Parteien sofort die streitige Rechtsfrage entscheiden.
2. Das Landesarbeitsgericht hat auch ohne Rechtsfehler angenommen, die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung sei nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG unwirksam, da der Betriebsrat nicht angehört worden sei.
a) Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß mehrere Unternehmen einen einheitlichen Betrieb bilden können. Ein solch einheitlicher Betrieb liegt dann vor, wenn sich aus den gesamten Umständen des Einzelfalles ergibt, daß die Parteien eine rechtliche Vereinbarung über die einheitliche Leitung getroffen haben. Diese rechtliche Vereinbarung kann sich auch konkludent aus den näheren Umständen des Einzelfalles ergeben. Sie ist dann anzunehmen, wenn die Arbeitgeberfunktionen im Bereich der sozialen und personellen Angelegenheiten von einem Leitungsapparat der beteiligten Unternehmen wahrgenommen werden, nicht aber auch die unternehmerischen Funktionen im Bereich der wirtschaftlichen Angelegenheiten (vgl. BAGE 52, 325 = AP Nr. 5 zu § 1 BetrVG 1972; BAG Beschluß vom 29. Januar 1987 - 6 ABR 23/85 - AP Nr. 6 zu § 1 BetrVG 1972 und BAGE 59, 319 = AP Nr. 9 zu § 1 BetrVG 1972).
Das Landesarbeitsgericht hat vorliegend die vom Kläger behaupteten und von der Beklagten - soweit erheblich - nicht bestrittenen Tatsachen zutreffend dahingehend gewürdigt, es liege ein gemeinsamer Betrieb vor. Es hat ohne Rechtsfehler ausgeführt, der Betrieb von i stelle eine Organisation von Arbeitsmitteln in räumlicher Zusammenfassung durch den Arbeitgeber dar, mit denen er bestimmte arbeitstechnische Zwecke weiter verfolge. Es hat weiter aus dem Umstand, daß der Kläger für die Beklagte in diesem Betrieb tätig war, gefolgert, daß konkludent eine Vereinbarung über die Betriebsführung getroffen worden sein muß. Gegen die vom Landesarbeitsgericht hierbei verwerteten Tatsachen sind Rügen in der Revision nicht geltend gemacht worden. Der Einwand der Beklagten, sie unterhalte überhaupt keinen Betrieb, als Betrieb sei allein derjenige von infas vorhanden, ist rechtlich nicht vertretbar. Die Beklagte verfolgt mit ihrem einzigen Arbeitnehmer, dem Kläger, auch arbeitstechnische Zwecke. Sie behauptet selbst nicht, daß sie diesen Arbeitnehmer an i entliehen hat. Sie beschäftigt ihn vielmehr im Rahmen des Betriebes der i. Dann ist aber auch unter Zugrundelegung der zitierten Rechtsprechung ein einheitlicher Betrieb anzunehmen.
b) Es war daher der Betriebsrat der infas anzuhören. Für das Mitwirkungsverfahren bei Kündigungen ist grundsätzlich der Betriebsrat des Betriebes zuständig, dem der Arbeitnehmer angehört. Nach der Rechtslage, die sich objektiv aus den vorhandenen Tatsachen ergibt, bestand das Anhörungsrecht des Betriebsrates nach § 102 BetrVG, der in dem einheitlichen Betrieb gewählt worden war (vgl. Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 16. Aufl., § 1 Rz 49 ff., 56). Ob die Parteien hierzu rechtlich zutreffende Vorstellungen hatten, ist nicht entscheidungserheblich.
Hillebrecht Bitter Dr. Ascheid
Brocksiepe Walter
Fundstellen