Entscheidungsstichwort (Thema)
Sanierungstarifvertrag. Mindestlohn. Tarifkonkurrenz. Rückwirkung. Meistbegünstigungsklausel. Lohnverwendung. Tariflicher Mindestlohn. Sanierungsarbeitsstunden. Ausgleich des Arbeitszeitguthabens. Jahresüberschuss. Darlegungslast. Indiztatsachen. Insolvenz. Tariflücke. Ergänzende Tarifauslegung. Geschäftsgrundlage. Insolvenzsicherung von Arbeitszeitkonten
Leitsatz (amtlich)
Nach dem Sanierungstarifvertrag der Philipp Holzmann AG vom 10. April 2000 bestand bei einem Scheitern der Sanierung kein Vergütungsanspruch für die geleisteten Sanierungsarbeitsstunden.
Orientierungssatz
1. Der Sanierungstarifvertrag der Philipp Holzmann AG vom 10. April 2000 (SanTV) verdrängte als der speziellere Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich die allgemeinen Lohntarifverträge des Baugewerbes und den allgemeinverbindlichen BRTV Bau nach den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz.
2. Die rückwirkende Inkraftsetzung des SanTV war mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes vereinbar.
3. § 3 SanTV macht den Ausgleich der geleisteten Sanierungsarbeitsstunden von einem hypothetischen Jahresüberschuss der Gesellschaft abhängig. Diese Anspruchsvoraussetzung hat der Arbeitnehmer, ggf. mit Hilfe von Indizien, darzulegen.
4. Der SanTV enthält keine von den Gerichten für Arbeitssachen im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließende Lücke, wonach bei einem Scheitern der Sanierung ein Ausgleich über § 3 SanTV hinaus zu erfolgen habe.
5. Bei der Berechnung des Mindestlohns iSd. § 1 Abs. 1 AEntG sind ungeachtet ihrer Bezeichnung alle Zahlungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer zu berücksichtigen, die nicht Aufwandsentschädigung, sondern Arbeitsvergütung darstellen.
6. § 7b Abs. 1 SGB IV, der die Pflicht zur Absicherung von Wertguthaben beiden Parteien auferlegt, ist nicht Schutzgesetz zu Gunsten der Arbeitnehmer iSv. § 823 Abs. 2 BGB.
Normenkette
Sanierungstarifvertrag der Philipp Holzmann AG vom 10. April 2000; TVG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 4; AEntG § 1 Abs. 1 i.d.F. vom 19. Dezember 1998; BGB § 313; SGB IV § 7b
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 29.11.2007; Aktenzeichen 8 Sa 230/07) |
ArbG Dresden (Urteil vom 15.02.2007; Aktenzeichen 2 Ca 1342/06) |
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 29. November 2007 – 8 Sa 230/07 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Feststellung einer Vergütungsforderung wegen sog. Sanierungsstunden zur Insolvenztabelle.
Der Kläger war vom 20. Mai 1996 bis zum 14. Juni 2002 bei der P… AG (Schuldnerin) als Baufacharbeiter beschäftigt. Er war Mitglied der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau). Die Schuldnerin war ebenfalls tarifgebunden.
Ende 1999 stellte die Schuldnerin einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Am 10. April 2000 schloss sie mit der IG Bau einen Sanierungstarifvertrag (SanTV), der ua. folgende Regelungen enthält:
“Präambel
Aufgrund der existenzbedrohenden wirtschaftlichen Krise des P… Konzerns und zur Vermeidung eines Insolvenzverfahrens sowie zur Sicherung der Arbeitsplätze ist eine Sanierung des Konzerns erforderlich. Dazu sind Beiträge der Anteilseigner, Gläubigerbanken, Kreditversicherer und des Pensionssicherungsvereins sowie für die Zeit vom 01.02.2000 bis 31.07.2001 (Sanierungszeit) der Arbeitnehmer notwendig. …
…
§ 2
Sanierungsarbeitszeitkonto
1. In der Sanierungszeit sind die Arbeitnehmer verpflichtet, über die nach den jeweils anwendbaren Tarifverträgen geltende regelmäßige tarifliche tägliche oder wöchentliche Arbeitszeit hinaus wöchentlich fünf Arbeitsstunden (Sanierungsstunden) zu erbringen, die einem individuell arbeitnehmerbezogenen Sanierungsarbeitszeitkonto gutgeschrieben werden. Jede Sanierungsstunde ist für die Gutschrift auf dem Sanierungsarbeitszeitkonto entsprechend den allgemeinen tarifvertraglichen Bestimmungen als Mehrarbeitsstunde zu bewerten.
…
6. Zur Absicherung der Arbeitszeitkonten werden die bestehenden Sicherungsmittel in unveränderter Höhe beibehalten.
7. Der Arbeitnehmer hat in jedem Fall für jede geleistete Stunde Anspruch auf Zahlung des Mindestlohns nach dem TV Mindestlohn.
§ 3
Ausgleich des Sanierungsarbeitszeitkontos
1. Das Sanierungsarbeitszeitkonto wird vom 01.01.2002 an durch Gewährung von bezahlten arbeitsfreien Tagen oder Stunden ausgeglichen, wenn der Jahresabschluss der P… Aktiengesellschaft für das vorausgegangene Geschäftsjahr ohne Berücksichtigung der möglichen Aufwendungen für Ausgleichsverpflichtungen gegenüber den Arbeitnehmern aus den Sanierungsarbeitszeitkonten (hypothetischer Jahresabschluß) einen Überschuß (hypothetischer Jahresüberschuß) ausweist.
Für den Ausgleich von Guthabenstunden aus den Sanierungsarbeitszeitkonten werden genutzt
im Jahre 2002 |
10 % des hypothetischen Jahresüberschusses aus dem Geschäftsjahr 2001, |
in den Jahren 2003 und 2004 |
je 20 % des hypothetischen Jahresüberschusses der Geschäftsjahre 2002 bzw. 2003, |
in den Jahren 2005, 2006 und 2007 |
je 20 % des hypothetischen Jahresüberschusses der Geschäftsjahre 2004, 2005 bzw. 2006; beträgt der hypothetische Jahresüberschuß der beiden Geschäftsjahre, die den vorgenannten vorausgehen, jeweils mehr als 80 Mio. DM oder beträgt der hypothetische Jahresüberschuß allein des vorhergehenden Geschäftsjahres mehr als 120 Mio. DM, so erhöht sich das für den Ausgleich zu nutzende Volumen auf 40 %. |
2. Ist der Ausgleich durch die Gewährung von arbeitsfreien Tagen gemäß Ziffer 1 bis zum Ende des jeweiligen Kalenderjahres nicht möglich, sind die zum Ausgleich fälligen Guthabenstunden mit der nächstfolgenden Lohn-/Gehaltsabrechnung auszuzahlen. Der Geldwert der Guthabenstunden ist auf der Basis des zum Zeitpunkt der Auszahlung gültigen tariflichen Lohnes oder Gehaltes zu ermitteln.
Ein Ausgleich erfolgt jedoch nur dann, wenn für das jeweilige Geschäftsjahr ein Ausgleichsvolumen von mindestens 5 % des am 31.07.2001 ermittelten Gesamtgeldwertes aller Sanierungsarbeitszeitkonten (Geringfügigkeitsgrenze) überschritten wird. Wird die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten, so wird das Ausgleichsvolumen in das folgende Kalenderjahr vorgetragen. Das vorgetragene Ausgleichsvolumen ist bei der Berechnung, ob die Geringfügigkeitsgrenze überschritten wird, zu berücksichtigen und zusammen mit dem Ausgleichsvolumen des jeweiligen Geschäftsjahres für den Ausgleich zu nutzen oder vorzutragen. Im Jahr 2007 ist das Ausgleichsvolumen des Geschäftsjahres 2006 einschließlich der gegebenenfalls vorgetragenen Ausgleichsvolumina der vorangegangenen Geschäftsjahre unbeschadet der Geringfügigkeitsgrenze für den Ausgleich zu verwenden.
3. Scheidet ein Arbeitnehmer vor dem 31.12.2007 aus dem Geltungsbereich dieses Tarifvertrages aus, ist der Wert seines Sanierungsarbeitszeitkontos in derselben Weise auszugleichen, als wenn er nicht ausgeschieden wäre.
4. Aus den Anteilen der Arbeitnehmer an den hypothetischen Jahresüberschüssen gemäß Ziffer 1 werden höchstens die jeweiligen Sanierungsarbeitszeitkonten in bezahlter Zeit oder (in den Fällen der Ziffer 2) in Geld abgegolten. Restguthaben, die nach Verwendung der Anteile an dem hypothetischen Jahresüberschuss des Jahres 2006 (gegebenenfalls einschließlich von Vorträgen) nicht ausgeglichen werden konnten, werden nicht vorgetragen sondern verfallen.
5. Die IG BAU hat bei begründeten Zweifeln an der zutreffenden Ermittlung des hypothetischen Jahresüberschusses das Recht, durch einen zur Verschwiegenheit verpflichteten Wirtschaftsprüfer ihres Vertrauens Einsicht in die Grundlagen der Ermittlung des hypothetischen Jahresabschlusses zu nehmen.
…
§ 7
Weitergeltung von Tarifverträgen
Neben den befristeten, speziellen Regelungen dieses Tarifvertrages gelten die jeweils gültigen allgemeinen Tarifverträge weiter.
§ 8
Inkrafttreten und Laufzeit
Dieser Tarifvertrag tritt am 01. Februar 2000 in Kraft und am 31. Juli 2001 außer Kraft. § 3 tritt jedoch erst am 31. Dezember 2007 und § 4 am 31. Dezember 2004 außer Kraft. Eine Nachwirkung des Tarifvertrages ist ausgeschlossen.
…”
In der Zeit vom 1. Februar 2000 bis zum 31. Juli 2001 leistete der Kläger über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit hinaus Sanierungsstunden, die einem Sanierungsarbeitszeitkonto gutgeschrieben wurden. Sein Guthaben einschließlich der Überstundenzuschläge hatte zuletzt einen Umfang von 299,40 Stunden.
Auf erneuten Antrag der Schuldnerin wurde das Insolvenzverfahren über ihr Vermögen am 1. Juni 2002 eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Der Kläger meldete beim Beklagten auf der Grundlage seiner tariflichen Stundenvergütung von 12,47 Euro brutto eine Forderung von 3.733,52 Euro für 299,40 Stunden an. Der Beklagte bestritt die Forderung in vollem Umfang.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung der Forderung zur Insolvenztabelle. Er hat die Auffassung vertreten, der SanTV sei europarechtswidrig und als Abrede über die Verwendung des Lohns unwirksam. Ihm stehe für die Stunden auf dem Sanierungsarbeitszeitkonto jedenfalls der Mindestlohn nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag über die Regelung eines Mindestlohnes im Baugewerbe (TV Mindestlohn) zu. Den Beklagten treffe die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen eines Jahresüberschusses.
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der P… AG einen Betrag von 3.733,52 Euro brutto als Insolvenzforderung zur Tabelle festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und ausgeführt, die Anspruchsvoraussetzungen für die Vergütung des Guthabens auf dem Sanierungsarbeitszeitkonto seien nicht erfüllt. Die Vorgaben des TV Mindestlohn seien eingehalten, denn der Kläger habe den Mindestlohn bezogen auf alle im streitgegenständlichen Zeitraum geleisteten Arbeitsstunden erhalten.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Feststellungsklage zu Recht abgewiesen. Sie ist gem. § 179 Abs. 1 InsO zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Vergütungsanspruch für die geleisteten Sanierungsstunden.
I. Ein Anspruch auf Auszahlung des Guthabens auf dem Sanierungsarbeitszeitkonto ergibt sich nicht aus den von der IG Bau mit den Verbänden des Baugewerbes und der Bauindustrie abgeschlossenen Lohntarifverträgen für das Beitrittsgebiet. Zwar fanden diese Tarifverträge kraft beiderseitiger Tarifbindung gem. § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Die Vergütung für Mehrarbeit unterlag darüber hinaus den Regelungen des allgemeinverbindlichen BRTV Bau. Die Lohntarifverträge und der BRTV Bau wurden aber in Bezug auf die Vergütung der als Sanierungsbeitrag geleisteten Mehrarbeit im Umfang von wöchentlich fünf Stunden durch den spezielleren SanTV verdrängt, der ebenfalls kraft beiderseitiger Tarifbindung unmittelbar und zwingend zwischen den Arbeitsvertragsparteien galt und einen Anspruch für den Streitfall wirksam ausschloss.
1. Der SanTV enthielt von den Lohntarifverträgen und dem BRTV Bau abweichende Bestimmungen. Sämtliche Tarifverträge fanden tarifrechtlich, also nach ihren jeweiligen Geltungsbereichen und Geltungsgründen, auf das Arbeitsverhältnis des Klägers Anwendung. In einem solchen Fall der Konkurrenz zwischen mehreren, von verschiedenen Tarifvertragsparteien abgeschlossenen Tarifverträgen geht der speziellere Tarifvertrag dem allgemeineren vor (vgl. nur BAG 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – BAGE 67, 330, 340 f. mwN). Dabei macht es keinen Unterschied, dass der BRTV Bau allgemeinverbindlich ist. Das Tarifvertragsgesetz kennt keine Tarifgeltung erster oder zweiter Klasse. Es ist nicht in der Art eines “Vorrangprinzips” danach zu unterscheiden, welcher tarifrechtliche Rechtsgrund der Anwendung des jeweiligen Tarifvertrags zugrunde liegt (vgl. Wiedemann/Wank 7. Aufl. § 4 TVG Rn. 289; Däubler/Zwanziger TVG 2. Aufl. § 4 Rn. 926; aA Löwisch/Rieble TVG 2. Aufl. § 4 Rn. 142). Danach verdrängte der SanTV die Lohntarifverträge und den BRTV Bau, denn Firmentarifverträge stellen gegenüber Verbandstarifverträgen die speziellere Regelung dar (vgl. BAG 15. April 2008 – 9 AZR 159/07 – Rn. 36 mwN; 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – aaO). Ein Firmentarifvertrag kann den besonderen Bedürfnissen eines Unternehmens in der Sanierung weitergehend gerecht werden als ein für die gesamte Baubranche geltender Tarifvertrag, der nicht auf die Notlage des Unternehmens zugeschnitten ist.
2. § 1 Abs. 1 Satz 3 iVm. Satz 2 AEntG in der Fassung vom 19. Dezember 1998 gültig ab 1. Januar 1999 steht der Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes zur Auflösung der Tarifkonkurrenz nicht entgegen, denn die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 3 iVm. Satz 1 AEntG sind nicht erfüllt. Die Lohntarifverträge des Baugewerbes waren nicht allgemeinverbindlich. Der BRTV Bau war zwar allgemeinverbindlich, regelte aber keine der in § 1 Abs. 1 Satz 1 AEntG genannten Materien.
3. Der SanTV hat die Lohntarifverträge und den BRTV Bau auch insoweit verdrängt, als er wegen seines rückwirkenden Inkrafttretens zum 1. Februar 2000 nachträglich in Konkurrenz zu diesen Tarifverträgen getreten ist.
a) Der rückwirkende Eingriff in das Arbeitsverhältnis durch eine nachträglich entstandene Tarifkonkurrenz wird nach den gleichen Grundsätzen beurteilt wie die rückwirkende Änderung des Tarifwerks. Danach können bereits entstandene und fällig gewordene, noch nicht abgewickelte Ansprüche, die aus einer Tarifnorm folgen, während der Laufzeit des Tarifvertrags rückwirkend verändert werden (vgl. BAG 14. November 2001 – 10 AZR 698/00 – EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 16, zu II B 1d der Gründe). Insoweit gelten die gleichen Regeln wie bei der Rückwirkung von Gesetzen (vgl. BAG 14. November 2001 – 10 AZR 698/00 – aaO; 17. Oktober 2007 – 4 AZR 812/06 – Rn. 26, ZTR 2008, 386, 388 unter Bezugnahme auf BVerfG 19. Dezember 1961 – 2 BvL 6/59 – BVerfGE 13, 261, 271 f.).
b) Die Regelungen des SanTV haben nicht rückwirkend bereits auf der Grundlage des Lohntarifvertrags iVm. dem BRTV Bau entstandene Ansprüche vernichtet. Die Leistung der Sanierungsstunden ist vielmehr als vorweggenommene Umsetzung des SanTV vom 10. April 2000 erfolgt. Dies ergibt sich aus den Lohnabrechnungen für die Monate Februar bis April 2000, die der Kläger seinem Vortrag zugrunde gelegt hat. Der Kläger geht selbst davon aus, dass er die Mehrarbeit als Sanierungsstunden iSd. SanTV geleistet hat. Jedenfalls hat er sie nicht im Vertrauen auf das Fortbestehen einer anderweitigen tariflichen Regelung erbracht.
4. Der SanTV ist wirksam. Er ist formwirksam zustande gekommen, wie das Landesarbeitsgericht zu Recht im Einzelnen ausgeführt hat. Ein Verzicht des Arbeitnehmers auf tarifliche Ansprüche (§ 4 Abs. 4 TVG) ist mit ihm nicht verbunden. Vielmehr geht es um die Konkurrenz zwischen zwei Tarifverträgen. § 2 Abs. 1 TVG verleiht dem Arbeitgeber die Tariffähigkeit unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Arbeitgebervereinigung. Der Arbeitgeber kann trotz Verbandszugehörigkeit und trotz eines für ihn gültigen Verbandstarifvertrags einen konkurrierenden oder ergänzenden Firmentarifvertrag abschließen. Die Wirksamkeit des Firmentarifvertrags wird auch durch einen etwaigen Verstoß gegen Verbandspflichten nicht betroffen (BAG 24. Januar 2001 – 4 AZR 655/99 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 173 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 14, zu I 1c bb (1) der Gründe). Ebenso stand die sog. Meistbegünstigungsklausel des § 19 BRTV Bau dem wirksamen Abschluss eines abweichenden Firmentarifvertrags nicht entgegen. Sie hätte allenfalls zu einem Anspruch auf Übernahme von Regelungen des SanTV in den BRTV Bau führen können. Schließlich ist der SanTV nicht gem. § 117 Abs. 2 GewO in der Fassung vom 22. Februar 1999 nichtig. Hiernach waren Verabredungen zwischen Gewerbetreibenden und den von ihnen beschäftigten Arbeitnehmern über die Verwendung des Verdienstes zu einem anderen Zweck als zur Beteiligung an bestimmten Arbeitnehmereinrichtungen nichtig. Abgesehen davon, dass der SanTV keine Vereinbarung zwischen Gewerbetreibenden und ihren Arbeitnehmern darstellt, wurde keine Abrede über die Verwendung des Entgelts, sondern ein Flexibilisierungsinstrument in Form eines über einige Jahre andauernden Arbeitszeitkontos geschaffen.
5. Nach den abschließenden Regelungen des SanTV hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung am 1. Juni 2002 keinen Anspruch gegen die Schuldnerin auf einen finanziellen Ausgleich des Guthabens auf seinem Sanierungsarbeitszeitkonto.
a) Nach § 2 Abs. 1 SanTV erhielt der Arbeitnehmer für jede Sanierungsstunde eine Gutschrift auf seinem Sanierungsarbeitszeitkonto. Unstreitig wies das Konto des Klägers ein Guthaben von 299,40 Stunden einschließlich Mehrarbeitszuschlägen auf.
b) Gem. § 3 Abs. 1 und 2 SanTV war unter der Voraussetzung, dass der Jahresabschluss für das vorausgegangene Geschäftsjahr einen näher definierten hypothetischen Jahresüberschuss auswies, ab dem 1. Januar 2002 ein Ausgleich des Sanierungsarbeitszeitkontos vorrangig durch die Gewährung bezahlter Freizeit vorgesehen. Im Jahr 2002 sollten danach 10 % des hypothetischen Jahresüberschusses aus dem Geschäftsjahr 2001 für den Ausgleich von Sanierungsstunden genutzt werden, in den Jahren 2003 bis 2007 je 20 %. Lediglich dann, wenn zwar ein Jahresüberschuss erwirtschaftet wurde, ein Ausgleich durch Freizeit aber nicht möglich war, sollten die zum Ausgleich fälligen Guthabenstunden ausgezahlt werden. Weitere Voraussetzung für den Ausgleich war die Überschreitung einer bestimmten Geringfügigkeitsgrenze, andernfalls sollte das Ausgleichsvolumen in das folgende Kalenderjahr vorgetragen werden.
c) Zu den anspruchsbegründenden Tatsachen gehörte danach ein hypothetischer Jahresüberschuss der Schuldnerin. § 3 Abs. 2 SanTV war nicht eine Einwendung gegen Ansprüche aus anderen Tarifverträgen. Vielmehr regelte der SanTV Anspruchsvoraussetzungen, die die Anspruchsgrundlagen der anderen Tarifverträge verdrängten.
aa) Ein Sachvortrag zur Begründung des Klageanspruchs ist schlüssig, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen zu lassen. Das Gericht muss in der Lage sein, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs vorliegen. Dies eröffnet die Möglichkeit, auch mit Hilfe von Indizien die Haupttatsachen darzulegen, die den betreffenden Rechtssatz ausfüllen (BAG 20. November 2003 – 8 AZR 580/02 – NZA 2004, 489, 491 mwN aus der Rspr. des BGH).
bb) Der Kläger hat keine Hilfstatsachen vorgetragen, sondern lediglich die Darstellung des Beklagten zur wirtschaftlichen Lage der Schuldnerin mit Nichtwissen bestritten. Seinem Vortrag ist nicht zu entnehmen, warum ihm derartige Hilfstatsachen nicht bekannt sein konnten. Nach den allgemein zugänglichen Medien war die Schuldnerin seit dem Jahr 1999 mit steigender Tendenz verschuldet, nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zuletzt in dreistelliger Millionenhöhe, nach den Angaben im Geschäftsbericht der Schuldnerin in Milliardenhöhe. Mit der Insolvenzeröffnung am 1. Juni 2002 war das Scheitern der Sanierung allgemein ersichtlich. Danach hatte der Kläger als Gläubiger iSv. § 74 Abs. 1 InsO die Möglichkeit, den Bericht des Insolvenzverwalters gem. § 156 Abs. 1 InsO zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Flessner in HKInsO 4. Aufl. § 156 Rn. 3 f.).
6. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht von einer ergänzenden Auslegung des SanTV abgesehen. Für das Vorliegen einer Tariflücke hinsichtlich des Ausgleichs des Sanierungsarbeitszeitkontos bei Scheitern der Sanierung enthält der SanTV keinen Anhaltspunkt.
a) Der SanTV lässt nicht den Regelungswillen der Tarifvertragsparteien erkennen, den Arbeitnehmern einen Ausgleich ihres Sanierungsarbeitszeitguthabens für den Fall zu gewähren, dass der erforderliche Überschuss im Zeitraum 2002 bis 2007 nicht erwirtschaftet wird oder die Sanierung überhaupt scheitert. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen eines Ausgleichs im Einzelnen in § 3 SanTV geregelt, der diese Fälle gerade nicht erfasst. Hätte der Tarifvertrag weitergehende Ansprüche vorsehen wollen, hätte er diese aufgeführt.
b) Der Sinn und Zweck der Regelung lässt nicht auf einen anderen Willen der Tarifvertragsparteien schließen. In der Präambel des SanTV wird ausgeführt, der Sanierungsbeitrag der Arbeitnehmer werde zur Vermeidung eines Insolvenzverfahrens und zur Sicherung der Arbeitsplätze erforderlich. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht darauf hingewiesen, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht zwingend zum Verlust der Arbeitsplätze führe. Darüber hinaus lässt die Tatsache, dass der Arbeitnehmerbeitrag seinen Zweck, den Konzern zu retten, verfehlt hat, nicht darauf schließen, die Tarifvertragsparteien hätten für den Fall des Scheiterns einen weiteren Ausgleichstatbestand schaffen wollen. Der Sanierungsbeitrag der Arbeitnehmer war nicht sinn- und gegenstandslos, vielmehr hat er den Versuch der Sanierung und die Verhinderung der sofortigen Insolvenz erst ermöglicht.
II. Der Vergütungsanspruch des Klägers ergibt sich nicht anteilig aus § 2 des allgemeinverbindlichen TV Mindestlohn.
1. Die Frage, ob die in § 1 Abs. 1 Satz 3 AEntG angeordnete Geltung der allgemeinverbindlichen Tarifnormen sonstige tarifvertragliche Vereinbarungen in dem gesetzlich bestimmten Umfang verdrängt (so BAG 25. Juni 2002 – 9 AZR 439/01 – BAGE 102, 1, 17 f.; 13. Mai 2004 – 10 AS 6/04 –; hierzu Däubler/Lakies TVG 2. Aufl. Anhang 2 zu § 5 § 1 AEntG Rn. 107 f.) ist im Streitfall nicht entscheidungserheblich, denn die Mindestvorgaben des § 1 Abs. 1 Satz 3 AEntG iVm. § 2 TV Mindestlohn werden vom SanTV eingehalten. Bei der Berechnung des Mindestlohns iSd. § 1 Abs. 1 AEntG sind ungeachtet ihrer Bezeichnung alle Zahlungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer zu berücksichtigen, die nicht nur Aufwandsentschädigung, sondern Teil der Arbeitsvergütung sind (Däubler/Lakies Anhang 2 zu § 5 § 5 AEntG Rn. 7; BayObLG 28. Mai 2002 – 3 ObOWi 29/02 – AP AEntG § 1 Nr. 10 = EzAÜG AEntG § 1 Nr. 9, zu II der Gründe). Der Mindestlohn und der mit ihm beabsichtigte Mindeststandard sind gewährleistet, wenn die Arbeitsstunden insgesamt im Durchschnitt mit dem Mindestlohn vergütet werden. Weder der TV Mindestlohn noch § 1 Abs. 1 AEntG beziehen sich nur auf die Sanierungsstunden. Hiernach betrug die Vergütung des Klägers bezogen auf die wöchentliche Gesamtstundenzahl entsprechend den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts 10,89 Euro bzw. 11,05 Euro brutto pro Stunde und lag damit über dem jeweiligen Mindestlohn nach § 2 TV Mindestlohn. Der TV Mindestlohn sah für das Lohngebiet Ost einen Gesamttarifstundenlohn von 16,28 DM (8,32 Euro) bis zum 31. August 2000 und von 16,60 DM (8,49 Euro) ab dem 1. September 2000 vor. Es spricht nicht gegen den Maßstab eines durchschnittlichen Stundenlohns, dass bei Ausbleiben eines hypothetischen Jahresüberschusses iSv. § 3 SanTV der Gesamttarifstundenlohn nach dem jeweiligen Lohntarifvertrag auch für die Stunden unterschritten wird, die nicht als Sanierungsstunden geleistet worden sind. Denn die Lohntarifverträge sind auch insoweit vom SanTV im Rahmen der Tarifkonkurrenz verdrängt worden.
2. Ein Anspruch auf Mindestlohn folgt auch nicht aus § 2 Abs. 7 SanTV.
a) Nach § 2 Abs. 7 SanTV hat der Arbeitnehmer “in jedem Fall für jede geleistete Stunde Anspruch auf Zahlung des Mindestlohns nach dem TV Mindestlohn”. Das Landesarbeitsgericht hat § 2 Abs. 7 SanTV zu Recht dahin ausgelegt, dass der Mindestlohn bezogen auf die insgesamt geleisteten Stunden nicht unterschritten werden darf. Der Anspruch auf den Mindestlohn besteht nur dann nach § 2 Abs. 7 SanTV, wenn alle in einem Abrechnungszeitraum geleisteten Stunden im Durchschnitt nicht mit dem Mindestlohn vergütet worden sind. Das ist, wie ausgeführt, vorliegend nicht der Fall.
b) Der Wortlaut des § 2 Abs. 7 SanTV bezieht sich ausdrücklich auf jede geleistete Arbeitsstunde, nicht speziell auf die geleisteten Sanierungsstunden. Nach dem maßgeblichen Sprachgebrauch der Tarifvertragsparteien wird in § 2 Abs. 1 SanTV der Begriff “Sanierungsstunde” und in § 3 Abs. 1 SanTV der Begriff “Guthabenstunde” gebraucht, um die Arbeitsstunden auf dem Sanierungsarbeitszeitkonto zu bezeichnen und gegen alle anderen Arbeitsstunden abzugrenzen. Im Gegensatz dazu gebraucht § 2 Abs. 7 SanTV nicht nur den pauschalen Begriff “Stunde”, sondern unterstreicht auch dessen umfassende Bedeutung durch den Zusatz “jede geleistete”.
c) Der in der Präambel aufgeführte Sinn und Zweck eines erheblichen Sanierungsbeitrags der Arbeitnehmer bestätigt diese Auslegung. Leitete man aus § 2 Abs. 7 SanTV einen Anspruch auf den Mindestlohn ohne Berücksichtigung der übrigen Vergütungsleistungen ab, beschränkte sich die finanzielle Entlastung der Schuldnerin auf die Differenz zwischen dem Mindestlohn und dem Gesamttarifstundenlohn nach dem jeweiligen Lohntarifvertrag für fünf Stunden wöchentlich. Ungeregelt wäre der Zeitpunkt der Zahlung. Von einer sofortigen Fälligkeit geht selbst der Kläger nicht aus. Darüber hinaus liegt es nahe, dass die Tarifvertragsparteien mit § 2 Abs. 7 SanTV den Zweck verfolgt haben, die mögliche Verdrängung oder Unwirksamkeit des SanTV wegen Unterschreitung des TV Mindestlohn zu vermeiden. Die Diskussion über die Möglichkeiten, durch einen Firmentarifvertrag von einem allgemeinverbindlichen Mindestlohntarifvertrag iSv. § 1 Abs. 1 AEntG abzuweichen, wurde zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses am 10. April 2000 bereits geführt (vgl. Junker/Wichmann NZA 1996, 505 ff. mwN). § 2 Abs. 7 SanTV stellt sich danach als Bestätigung der für zutreffend gehaltenen Rechtslage dar. § 7 SanTV bestätigt durch die nebeneinander angeordnete Geltung den im Konkurrenzfall bestehenden Vorrang der befristeten, speziellen Regelungen des SanTV vor den allgemeinen Tarifverträgen.
III. Unabhängig davon, ob bei Tarifverträgen eine Störung der Geschäftsgrundlage mit den Folgen des § 313 BGB überhaupt in Betracht kommt, kann der Kläger aus dieser Norm nichts herleiten. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit einer Insolvenz gerade als Ausgangspunkt der Regelungen im SanTV verstanden und damit berücksichtigt. Weder haben sich die Umstände unvorhergesehen verändert, noch haben sich wesentliche Vorstellungen als falsch herausgestellt.
IV. Der Kläger hat keinen Schadensersatzanspruch aufgrund einer unterlassenen Insolvenzsicherung der Sanierungsarbeitszeitkonten.
1. Ein Anspruch ergibt sich nicht aus § 280 Abs. 1 BGB iVm. § 2 Abs. 6 SanTV. Gem. § 2 Abs. 6 SanTV werden zur Absicherung der Arbeitszeitkonten “die bestehenden Sicherungsmittel in unveränderter Höhe beibehalten”. Danach muss eine zusätzliche Sicherung nicht erfolgen. Der BRTV Bau trägt der Notwendigkeit, Wertguthaben aus Arbeitszeitflexibilisierungsmodellen für den Fall der Insolvenz des Arbeitgebers abzusichern, mit einer Empfehlung in § 3 Nr. 1.44 Rechnung (BAG 24. September 2003 – 10 AZR 640/02 – BAGE 108, 1, 12). Ob die Arbeitszeit-/Entgeltkonten nach § 3 Nr. 1.44 BRTV Bau entsprechend abgesichert waren, ist nicht festgestellt. In den SanTV haben die Tarifpartner jedenfalls keine der in § 3 Nr. 1.44 BRTV Bau aufgeführten Absicherungen übernommen. Der SanTV verdrängt auch insofern als speziellerer Tarifvertrag den BRTV Bau.
2. Ein Anspruch ergibt sich nicht aus § 7d SGB IV in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (jetzt § 7b SGB IV). Hier war festgelegt, dass im Rahmen einer Vereinbarung über Arbeitszeitkonten Vorkehrungen zu treffen waren, die der Erfüllung des Wertguthabens einschließlich des auf sie entfallenden Arbeitgeberanteils an der Sozialversicherung bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers dienten. Die Norm regelte aber nicht die Folgen, wenn Vorkehrungen nicht oder nicht im gebotenen Umfang getroffen wurden. § 7d SGB IV war auch kein Schutzgesetz iSd. § 823 Abs. 2 BGB. Denn die Pflicht zur Absicherung der Wertguthaben wurde durch diese Norm beiden Vertragsparteien auferlegt (vgl. BAG 13. Februar 2007 – 9 AZR 207/06 – BAGE 121, 182, 186; 13. Dezember 2005 – 9 AZR 436/04 – BAGE 116, 293, 303 ff. mwN).
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Müller-Glöge, Mikosch, Laux, Zoller, Heyn
Fundstellen
Haufe-Index 2084566 |
BAGE 2010, 119 |
BB 2009, 45 |